Traumreise

»Niemand hat es mir zugetraut, diesen Weg einzuschlagen.«

Carla* ist Careleaverin und Peer-Beraterin im Projekt CareHope. In dieser eindrücklichen Traumreise beschreibt sie ihren Hürdenlauf durch das Bildungssystem – vom Abitur zum Studium.

»Wie war dein Leben mit 18 im Vergleich?«

Careleaver sind keine Opfer. Sie haben schon vieles in ihrem Leben erreicht und Dinge regeln müssen, die andere sich vielleicht nicht immer vorstellen können. Der folgende Beitrag soll nicht als „abschreckendes Beispiel einer nicht funktionierenden Jugendhilfe“, sondern sogar eher als positives und trotzdem herausforderndes gelten. Bei all den folgenden Problemen gab es Lösungen und Wege. Aber wie es sich anfühlt überhaupt in so einer Situation zu sein, scheint vielen einfach nicht klar zu sein. Lass den folgenden Text mal auf dich wirken. Wie war dein Leben mit 18 im Vergleich?

Stell dir vor, du bist 18 Jahre alt und machst gerade dein Abitur. Dein Weg überhaupt hier hinzukommen war schon sehr beschwerlich. Von den Hilfen der Jugendhilfe, die du bisher in deinem Leben erhalten hast, bleibt noch eine Betreuerin übrig, mit der du alle ein bis zwei Wochen über Probleme im Alltag, mit den Prüfungen und der Bewerbung für das Studium, sprechen kannst. Andere Ansprechpartner hast du nicht. Keinen Kontakt zu deiner Herkunftsfamilie. Mit den Mitschülern in deiner Klasse kommst du nicht so gut zurecht.
Und dann kommt ein Anruf von deiner zuständigen Fachkraft im Jugendamt mit der Frage, ob es denn nicht an der Zeit wäre auch die letzte Unterstützung einzustellen.

Wenn jemand 18 Jahre alt ist, Abitur macht und sich auf ein Studium bewirbt, dann ist diese Person doch selbstständig? Dann hat diese Person doch keine Probleme mehr? So jemand wie du kommt alleine klar, oder?
Und du hast eigentlich keine Lust der „Jugendamtstante“ klar zu machen, dass du Angst vor dem Umzug ins Studium hast. Dass es alles zu viel ist, die Bewerbung um einen Studienplatz, das Beantragen des BAföGs, das Suchen einer neuen Wohnung, die Organisation des Umzugs, alles neben der Vorbereitung auf die Abiturklausuren und dem Nebenjob, der dich über Wasser hält. Du verstehst nicht, warum du gerade jetzt keine Hilfe mehr bekommen sollst.
Stell dir vor, du möchtest im Arbeitsamt nachfragen, ob du Wohngeld beantragen kannst und du wirst schon am Schalter abgewiesen, nachdem du deinen Personalausweis gezeigt hast. „Sie sind unter 25, Sie haben noch gar nicht das Recht auf eine eigene Wohnung. Gehen Sie doch zu ihren Eltern.“
Und du hast eigentlich keine Lust der fremden Person am Schalter deine Lebensgeschichte zu erzählen und dass du es unter schlimmen Bedingungen mit 14 geschafft hast aus einer Familie wegzugehen, zu der du jetzt sicher nicht zurückkehren wirst, auch wenn dein Schüler-BAföG nicht für deine Miete ausreicht.

»Selbst wenn du bereit dazu wärst jemanden um Hilfe zu bitten, du wüsstest nicht wen du fragen solltest.«

Stell dir vor, du lebst von 465 € Schüler-BAföG und ca. 180 € Kindergeld. Bei einer Kaltmiete von 300 € und bestreitest davon deinen Lebensunterhalt. Du hast nichts erspart. Dir gehören vielleicht 3 bis 4 Möbelstücke und ein Fahrrad und jetzt musst du an deinen neuen Studienort ziehen. Du hast natürlich noch keinen Führerschein und auch kein Auto, kein Geld für die Kaution deiner neuen Wohnung. Und selbst wenn du bereit dazu wärst jemanden um Hilfe zu bitten, du wüsstest nicht wen du fragen solltest.
Stell dir vor, du hast mal wieder alles irgendwie geregelt bekommen.

Du hast deine alte Wohnung gekündigt und einen Platz im Studentenwohnheim erhalten. Selbst der Umzug wird durch Fremde unterstützt, denn du hast bei einer gemeinnützigen Organisation um Hilfe gefragt. Und dann sagt dir das Studentenwohnheim du kannst nicht wie geplant zu Beginn sondern erst zur Mitte des Monats in die Wohnung einziehen. Die neuen Badinstallationen seien noch nicht fertig und jetzt bist du obdachlos. Du überwindest dich dem Studierendenwerk von deiner misslichen Lage zu erzählen. Dass du und deine wenigen Besitztümer nirgendwo hinkönnen. Und die Antwort ist „wir können nichts für Sie tun“.
Stell dir vor, die einzige Möglichkeit dein Studium zu finanzieren ist BAföG und du stellst deinen Antrag so schnell es geht. Persönlich. Du schreibst direkt dazu, dass du Careleaver bist und keinen Kontakt zu deinen Eltern hast. „Ohne Einkommensnachweis der Eltern kein BAföG“ und dann wartest du 3 Monate ohne Einkünfte bis du alles hast klären können.

Am Ende bist du angekommen an deinem Ziel: Studieren. Hat sich der ganze Stress gelohnt? Hättest du manchmal vielleicht gerne aufgegeben und alles hingeschmissen?
In meinem Fall beantworte ich beide Fragen noch heute 10 Jahre später mit einem klaren: Ja.