Rückblick »Careleaver Festival« 2022 in der Klingemühle

»Wir sind keine Ansammlung von Einzelschicksalen, sondern vieles was wir erlebt haben ist ein Produkt von desolaten Strukturen«

Auch auf dem Careleaver Festival 2022 in der Klingemühle fanden wieder viele spannende und spaßige Workshops statt. Einer davon war ein Newsletter-Workshop, an dem Alyn, Kim, Rose und Tanja teilnahmen und tolle Beiträge verfasst haben. So haben Kim und Tanja ein Interview mit Björn Redmann vom House of Dreams geführt, Alyn hat einen freien Text geschrieben und Rose ging in einem eigenen Projekt der Frage nach »Was verbindet uns international?« Wir freuen uns sehr, die Texte und Beiträge hier präsentieren zu dürfen!

 

Foto: Matthias Coers

Projektidee & Text von Rose:

Was verbindet uns international?

Schön war's, leider schon wieder vorbei. Vieles hat mich bewegt, wie immer, wenn wir als ehemalige Heim- und Pflegekinder, als Care experienced People (Erfahrungsexpert:innen) über unsere Leben sprechen oder einfach miteinander Zeit verbringen.

Wenn wir als Careleaver:innen zusammenkommen, dann hören wir immer wieder ähnliche Aussagen. Wir verstehen uns oft ohne Worte und manchmal genügt ein anerkennender Blick, ein herzliches Lächeln – Erklärungen sind meistens gar nicht nötig. Um dieses »Gemeinsame« zu transportieren, haben wir in der Schweiz mit der »CareleaverTalk« Kampagne, die wir gemeinsam mit dem Kompetenzzentrum Leaving Care aufgebaut haben, begonnen »Statements« zu sammeln. Wenn ich irgendwo eingeladen werde, um die Sichtweise von Careleaver:innen zu vertreten, greife ich auf diese Statements zurück. Es geht nicht um mich oder meine Erfahrung allein oder einzelne Careleaver:innen. Denn wir sind keine Ansammlung von Einzelschicksalen, sondern vieles, was wir erlebt haben, ist ein Produkt von desolaten Strukturen, die das Aufwachsen mit der Unterstützung der Kinder- und Jugendhilfe enorm anspruchsvoll und hürdenreich machen.

Wir haben unglaublich vieles sehr ähnlich erlebt. Darum spreche ich von »uns«. Doch darf ich das? Kann ich das? Was ist denn gemeinsam? Vielleicht: Beim Greifen nach den Sternen den Boden unter den Füßen zu verlieren? Hohe Hürden bewältigen zu müssen? Die Erfahrung gemacht zu haben, »entwurzelt zu werden« und darum nicht mehr wurzeln können/wollen/dürfen? Sich selbst nicht gut entspannen können? Weil das Leben wahnsinnig »spannend« war? Anspannung, weil man nie weiß, was als nächstes passiert? Wenig Wertschätzung für sich selbst aufbringen? Sich hinterfragen und unsicher fühlen? Wut und Ohnmacht? Was dazu führt, dass man sich emotional oft überfordert fühlt? Darauf hin vieles verdrängt wird oder ständig im Kampf für die eigenen Belange ein Verhalten zementiert wird, das in der Gesellschaft zum Stempel »schwierig« führt? Mag sein.

Doch nicht alles teilen wir. Auch gehen wir unterschiedlich mit unseren Herausforderungen um. So wie ich es empfinde, geht es vor allem darum, was wir gemeinsam sehen und in welche Richtung wir Veränderung anstossen wollen. Diese Sicht will ich in der Öffentlichkeitsarbeit vertreten. Nicht nur in der Schweiz und nicht jeder für sich selbst. Gemeinsam sind wir stärker, lauter, vernehmbarer.

Am Festival brachte ich die bereits in der Schweiz gesammelten Statements mit und fragte einige Careleaver:innen, was sie davon hielten. Ob sie diese auch »unterschreiben« würden, es ihnen aus dem Herz spricht, oder eher weniger. Auch habe ich gefragt, ob Statements fehlen. Eine laufende Ergänzung der Aussagen macht unsere Stimme lauter und wir werden gehört. Wir durchbrechen auch unser eigenes Schweigen und die Ohnmacht, die manchmal einfach haften bleibt. Denn wir haben alle eine gesunde Intuition, die uns den Weg zu unserer Stimme weist.

Hier die Statements, die während des Festivals in Gesprächen und durch Erlebnisse dazugekommen sind.

Ich sehe in unserem gemeinsamen Zusammenkommen auch das Potential unsere Stimme zu verbinden.

Text von Alyn:

Ich packe meinen Koffer...

Ich packe meinen Koffer und nehme mit…

Festival! Endlich wieder Festival. Live-Musik hören, stundenlang tanzen und neue Menschen kennenlernen. Feier-Stimmung kommt hoch. Die Feier des Gemeinsamen. Des gemeinsamen Verstehens und des gemeinsam wütend-sein auf Vergangenes und Gegenwärtiges. Das Feiern von mühsam erkämpften Errungenschaften. Die kommende Aufhebung der Kostenheranziehung und das neue KJGS. Das Feiern des gemeinsamen Mutes, die Zukunft weiter zu gestalten.

 

Ich packe meinen Koffer und nehme mit…

Partizipation. Wo finden wir uns sonst so stark wieder wie hier? Wo findet sich sonst der Fokus auf Careleaver:innen und wo können wir sonst so selbstverständlich sein?

Es ist Zeit, Neues auszuprobieren. Kreative Workshops, neue Gerichte, neue Menschen kennenlernen.  Wir tauschen uns aus, nehmen Raum ein und beschließen Vorhaben und Veränderungen für die Zukunft. Wir gestalten und erfinden neue Rituale, die auf uns zugeschnitten sind und erlauben uns Momente des Ausatmens.

Hier ist Zeit, ein Teil, ein Part von etwas zu sein. Mit ausgestreckten Armen nehmen wir die Einladung an, endlich gesellschaftliche Mitte zu gestalten.

 

Ich packe meinen Koffer und nehme mit…

Wünsche. Für die zukünftigen Generationen. Keine hastigen Umzüge und halbgepackten Koffer, weil genug Zeit ist, sich vorzubereiten. Keine Diäten bestehend aus Ketchup und Nudeln, weil uns beigebracht wurde, wie gesunde Ernährung funktioniert. Kein Abwägen von Für und Wider eines Bettes oder Kühlschranks, weil genug Ressourcen für alle da sind. Keine Scham mehr seine Erfahrung zu teilen, weil alle verstehen, was Careleaver:in sein bedeutet.

Alyn (links) und Kim nahmen gemeinsam am Newsletter-Workshop teil

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