Blog #3

Careleaver:innen: Die Geschichten der Vielen

Im Juli 2021 fand das erste Careleaver Sommerfestival der Brückensteine statt. Das Festival war ein Ort der Begegnung und des Austauschs. Es ging um Careleaver:innen Community-Feelings und ordentlich Spaß. Aber auch darum gemeinsam über Lösungen für die Herausforderungen von Carleaver:innen nachzudenken. 

Helena Knorr, Projektleitung von AWAKE teilt hier ihre Eindrücke.

„Für Careleaver:innen sind die Bedingungen oft eng und beschränkend. Gerade am Übergang aus der Jugendhilfe nehmen existenzielle Sorgen jeden Raum für mutige Versuche und die Option zu scheitern.“

Im Workshop kommen wir zum Thema Bildung & Potenzial! Viele berichten davon, als Jugendliche von Fachkräften merkwürdig beraten worden zu sein. Nämlich hin zu Bildungsentscheidungen, die von kurzfristigem Denken und der schnellen Sicherheit auf niedrigem Niveau geprägt waren. Eine Careleaverin berichtet, das Jugendamt und ihren Pflegeeltern haben sie immer wieder ermutigt auf das Abitur zu verzichten.  Denn ihr Abitur würde zu finanziellen Engpässen führen, wenn sie mit 18 Jahren die Pflegefamilie verlassen muss. Sie ist den Deal eingegangen und steht mit Anfang 20 nun kurz davor nochmals die Schulbank zu drücken. Ein typischer Lauf des Lebens von Careleaver:innen.

Eine andere Careleaverin hat auf ein angesehenes Praktikum verzichten müssen, obwohl sie angenommen wurde. Das Jugendamt lehnte es ab, mit der Begründung, die Fahrten für Kontroll-Besuche wären nicht abrechenbar - falsches Bundesland. Willkommen im Formalismus...

Solche Erfahrungsberichte zeigen das Gegenteil von einer Förderung zur Selbstbestimmung und Teilhabe, das Gegenteil von mutigen Entscheidungsträger*innen und Potenzialförderung. Das Ergebnis im Großen ist, dass nur ein Bruchteil der Careleaver:innen in Deutschland studiert. Ein Großteil bleibt unter ihrem Bildungspotenzial. Was nicht heißen, soll, dass Studieren, the only way to go ist. Es geht darum, dass alle Menschen selbstbestimmt entscheiden und ermutigt werden sollten, ihr Potenzial zu erkennen und zu nutzen.


In dem Moment, in dem Careleaver:innen ihre vereinzelten Geschichten teilen und sie in den strukturellen Kontext einbetten, sie als Teil der Strukturen begreifen, können wir anhand der vielen persönlichen Geschichten gesellschaftliche Defizite aufdecken. Wir können sie zu dem machen, was sie sind: ein Politikum, das alle etwas angeht. Und genau darin liegt eine große Chance.


In den Workshops wurden viele Forderungen erarbeitet. Zwei davon möchte ich zum Abschluss hier vorstellen:

1. Careleaver:innen sind jung, wenn die Jugendhilfe zum 18. Geburtstag endet. Und sie sind nicht besonders, wenn sie in dieser Zeit ein Sicherheitsnetz und Unterstützung bei wichtigen Entscheidungen und Lebensfragen brauchen und wollen. 

Anlaufstellen für Careleaver:innen, wie das House of Dreams in Dresden oder das Careleaver* Kollektiv Leipzig füllen eine Lücke. Es sollte sie in allen Regionen Deutschlands geben, denn sie leisten, was der Staat noch nicht als notwendig anerkennt und gehen damit ein gesellschaftliches Defizit an.

2. Es ist auch unerlässlich, dass Careleaver:innen eine finanzielle Absicherung bis zum Ende der Ausbildung erhalten, um ohne existenzielle Not die Weichen für ihr gesamtes folgendes Leben stellen zu können. Das Bild der Vielen zeigt, dass viele Careleaver:innen, nicht die Chance bekommen, ihr Potenzial zu leben. Im Gegenteil: Ihre Geschichten zeigen Strukturen auf, die hinderlich sind, um im eigenen Leben und bei eigenen Zielen anzukommen und in der Gesellschaft ihren Platz zu finden.

Daran wollen wir mit dem Brückensteine Careleaver Verbund etwas ändern. Darum sind solche Treffen wichtig.

Die Erfahrungen der vielen engagierten Careleaver:innen, die beim Brückensteine Sommerfestival dabei waren, gehören nur ihnen. Mit Mut zur Verletzlichkeit und großem persönlichen Einsatz haben sie einige davon geteilt, sich wiedererkannt, Strukturen gefunden. In dem großen Bild, das daraus entstanden ist, wird ganz deutlich: Es gibt noch viel zu tun, um für Careleaver:innen gleichwertige Startchancen ins eigenständige Leben, gleichwertige Teilhabechancen, gleichwertige Anerkennung ihrer Leistungen und Förderung von Potenzial zu ermöglichen, wie für andere junge Menschen. Dafür haben wir uns auf den Weg gemacht.


Es ist nicht ein Prozess, es sind viele und es ist der Prozess der Vielen für den es Sensibilität und Mut genauso braucht, wie ein solidarisches Miteinander aller Unterstützer:innen. Von Careleaver:innen, die selbst Fachkräfte geworden sind, von sozialpädagogischen Begleiter:innen, die mit offenen Augen und Ohren zuhören und sehen, von sozialen Initiativen, Vereinen und Menschen, die ihre Hilfe ehrenamtlich anbieten können.


Und es ist wichtig, Räume zu schaffen, in denen Careleaver:innen sich miteinander in den Austausch begeben, ihre Geschichten teilen, neue Perspektiven auf das Erlebte finden und zu einem Bild der Vielen machen können, damit sich jetzt und für die zukünftigen Generationen der Careleaver:innen etwas ändert.  

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