Sarah Stemper:
»Ich lache gern und am liebsten über mich selbst, poetisiere meinen Alltag in Form von Versen, backe unglaublich leckeren Schokokuchen und finde es super wichtig, hilfsbereit zu sein.« Wenn Sarah Stemper sich vorstellt, wird sofort klar: sie ist #mehralscareleaver! Die Journalismus-Studentin schreibt auf ihrem Instagramkanal wunderbar wortgewandte und messerscharfe Texte, in denen sie sich mit Herausforderungen, die Careleaver meistern müssen, sowie Mental Health Themen auseinandersetzt. Wir freuen uns, hier ein paar Ausschnitte vorstellen zu dürfen!
Einmal das Wichtigste in kurz:
Heim & Heimkind
= Klischee
= also uncool!
Stationäre Jugendhilfe,
Carereceiver_in,
Careleaver_in
= neutral
= also cool!
Heute erkläre ich, was ich an Begriffen wie »Heim« und »Heimkind« problematisch finde. An was denkt ihr als erstes, wenn ihr diese Wörter hört? Wahrscheinlich nicht an Pflegefamilien, Wohngruppe oder betreutes Wohnen. Erklärung am Rande: Im betreuten Wohnen leben junge Heranwachsende selbstständig, bekommen jedoch regelmäßig Besuche von Sozialarbeitern und Betreuern, die sie noch bei diversen Anträgen und Problemen unterstützen können. Die Assoziation bei Heim sind 60er-Jahre Erziehung, Mehrbettzimmer und Waisen – dabei haben die meisten Menschen, die in Wohngruppen und Co. leben noch Familie und Eltern. Viele haben sogar noch Kontakt zu mindestens einem Elternteil, und teilweise sehr guten!
Warum ich euch das erzähle? Weil ich finde, dass für einen ordentlichen Diskurs die richtigen Begriffe notwendig sind. Das normative Familienbild entspricht eben nicht allen Teilen der Realität. Warum muss ich also für Anträge immer wieder auf Menschen zurückgreifen, mit denen ich nichts zu tun habe? Warum wird in Grundschulen ein Geschenk für Muttertag gebastelt, wenn der_die Lehrer_in nicht davon ausgehen kann, dass jedes Kind bei seiner Mutter lebt und auch ein gutes Verhältnis zu ihr hat?
Stationäre Kinder- und Jugendhilfe ist eine bessere Alternative zu »Heim«!
Der Begriff »Heim« stigmatisiert uns. Er reduziert uns auf für Außenstehende oft nur negative Assoziationen. Dabei ist das Aufwachsen in der stationären Jugendhilfe vielfältig und kann sehr viel mitgeben! »Heimkinder« sind keine Opfer des Schicksals, die auch noch mit 40 in Berichterstattungen »Heimkinder« genannt werden müssen. Begriffe wie Careleaver_in / Carereceiver_in und stationäre Jugendhilfe drücken eben aus, dass die Menschen ihr Schicksal auch (ein Stück weit) selbst in der Hand haben. Also liebe Mitmenschen und liebe Pressevertreter_innen: Nennt uns doch bitte nicht »Heimkinder«!
»Ich finde es wichtig, dass sich der Begriff #careleaver als betroffene Gruppe etabliert, wenn wir über soziale Ungleichheit bei Kindern und Jugendlichen sprechen. Weil kein Mensch diesen Begriff kennt. Es aber verdammt hart sein kann, ohne oder mit einem eingeschränkten familiären Sicherheitsnetz auf eigenen Beinen stehen zu müssen.«
Anträge, die sich wochenlang hinziehen, obwohl Mensch das Geld braucht. Ahnungslose Sachbearbeiter_innen, denen man einen Antrag auf Vorschussleistungen erklären muss. Das Ping-Pong Spiel zwischen den Ämtern, weil sich keine_r verantwortlich fühlt...
Das ist leider unter Careleaver_innen weit verbreitet. Ob es der Antrag für die Möbel in der ersten eigenen Wohnung ist, ein Unterhaltsvorschuss, weil die leiblichen Eltern ihren Pflichten nicht nachkommen oder schlicht und ergreifend ein Antrag auf Ausbildungsförderung: nicht immer können wir alle verlangten Unterlagen aufbringen und nicht immer haben wir jemanden, der uns bei allem Bürokratie-Kram unterstützen kann. Und nicht immer haben wir jemanden, der uns mal gegen Ende des Monats 50 Euro überweisen kann, wenn es finanziell knapp wird, weil das Kindergeld, Wohngeld, BAföG oder Verständnis der Ämter einfach immer noch nicht da ist.
Auch ich hatte meinen »Spaß« mit der Familienkasse & dem Kindergeld.
Es kann meiner Meinung nach nicht sein, dass sich mir als Careleaverin beim BAföG- oder BAB-Antrag die Nackenhaare aufsträuben, weil ich ahnen kann, dass das wieder auf lange Gespräche und Sondererklärungen hinauslaufen wird. Natürlich sind in Deutschland Eltern verpflichtet, ihren Kindern Unterhalt zu leisten. Das ist das "Subsidiaritätsprinzip" in unserem Sozialstaat: größere Einheiten (Bund & Land) helfen kleineren Einheiten (Stadt & Familie) erst dann, wenn kleinere Einheiten an ihre Grenzen kommen.
Aber: wenn ich seit langer Zeit keinen Kontakt mehr zu meinen Eltern habe und nicht die »klassischen« Kriterien für elternunabhängiges BAföG erfülle, kann es doch auch nicht sein, dass meine emotionalen Grenzen für ein paar Papiere überschritten werden. Es hat einen Grund, warum einige Careleaver_innen wenig bis keinen Kontakt zu einem Elternteil bzw. beiden Elternteilen haben. Manchmal fühle ich mich in unserem System so, als würde nicht darüber nachgedacht werden. Meiner Meinung nach würde eine Grundsicherung für Azubis und Studierende viele Sorgen aus dem Weg räumen. Denn Sorgen konsumieren leider den Kopf, den man in einer Ausbildung oder in einem Studium eigentlich für andere Dinge braucht.
Ich bin im September 2020 aus einer Wohngruppe ausgezogen. Dort habe ich dreieinhalb Jahre gelebt. Bevor ich in der stationären Jugendhilfe gewesen bin, war ich immer wieder in Inobhutnahmen.
Heute bin ich eine junge Frau, die weiß, dass sie mehr ist als ihre Vergangenheit, mehr als eine Careleaverin: In der Wohngruppe habe ich mich um 180 Grad gedreht. Ich hatte ein sicheres, ruhiges Umfeld, in dem ich mich um mich kümmern konnte und meine Stärken entdecken konnte.
Heute stecke ich am Anfang eines Journalismus-Studiums. Ich lache gern und am liebsten über mich selbst, poetisiere meinen Alltag in Form von Versen, backe unglaublich leckeren Schokokuchen und finde es super wichtig, hilfsbereit zu sein. Ich bin mehr als eine Careleaverin, weil ich mir selbst meine Ziele gesteckt habe. Ich wollte Journalismus studieren und wusste, dass ich dafür an mir arbeiten muss. Mir wurden in der Jugendhilfe helfende Hände angeboten – gegriffen habe ich sie jedoch selbst.
Alle Texte auf dieser Seite wurden von Sarah Stemper verfasst.