Interview
Neele, 19, ist Abiturientin und in einer Pflegefamilie mit zwei kleinen Geschwistern aufgewachsen. Sie möchte nach ihrem Abitur gerne studieren, entweder Germanistik und Geschichte auf Lehramt oder Medizin. Als Pflegekind hat Neele schon Gemeinheiten und Vorurteile erleben müssen. Trotzdem, so sagt sie selbst, ist ihre Geschichte eine schöne und sie ist für Vieles dankbar.
Hallo Neele! Unsere erste Frage an dich: fühlst du dich selber als Careleaver?
Lustigerweise kann ich mich mit dem Begriff nicht identifizieren, weil er ziemlich neu für mich ist und ich mich erst seit ein paar Monaten damit auseinandersetze. Also ich sehe mich persönlich nicht als Careleaver, finde aber die Arbeit sehr wichtig und voranbringend gerade für solche Careleaver, die sonst mit ihren sehr realen Problemen alleine dastehen würden.
Gibt es denn etwas, das du in deinem Leben meistern musstest, was andere Jugendliche in deinem Alter nicht leisten mussten?
Ich war halt mit Anfeindungen konfrontiert, mit denen sich andere nicht auseinandersetzen mussten. Ich habe in der Schule gemeine Dinge erleben müssen aufgrund der Tatsache, dass ich ein Pflegekind bin. Das war so in der 7. und 8. Klasse und in dem Alter wirklich schwierig für mich.
Also findest du, dass Pflegekinder mit bestimmten Vorurteilen zu kämpfen haben?
Ja, auf jeden Fall. Vor allem bei mir als Pflegekind dachten viele, dass ich doch bestimmt aus einem problembelasteten Umfeld kommen und psychische Schäden davongetragen haben muss. Natürlich kann das sein, aber es muss nicht sein! Und diese Vorurteile, die einem da entgegenschwingen, dass man doch einen Knacks haben muss, sind schon heftig.
»Ich war mit Anfeindungen konfrontiert, mit denen sich andere nicht auseinandersetzen mussten.«
Auf welche Hürde, die du genommen hast, bist du besonders stolz?
Auf meinen Schulwechsel von der 11. zur 12. Klasse. Ich war schon in der Abiturvorbereitungsphase und habe dann kurzerhand entschieden, dass ich die Schule wechsle, weil ich einen bestimmten Leistungskurs machen wollte und frischen Wind im Leben brauchte. Da ging es in einen anderen Ort, mit Leuten, die ich absolut nicht kannte und das war die gruseligste und beängstigendste, aber am Ende auch coolste Entscheidung, die ich je getroffen habe.
Also hast du dich an der neuen Schule gut eingefunden?
Ja, total. Ich habe die besten Freunde der Welt dort gefunden!
Wie sah dein Kontakt zur Jugendhilfe bisher aus?
Bei mir wird alles von PiB, Pflegekinder in Bremen, und dem Jugendamt geregelt. Von PiB kommt immer jemand, der für mich zuständig ist, das ist sehr lange die gleiche Person gewesen – das muss man denen wirklich hoch anrechnen, dass die dort so eine Konstanz haben – und die besprechen mit mir den Hilfeplan. Der greift solange ich in einem Pflegeverhältnis stehe und noch nicht selbstständig für meinen Lebensunterhalt aufkommen kann. Und bis zum Studium befinde ich mich tatsächlich gerade in der Übergangsphase. Ab Studienbeginn kann ich ja dann Bafög beantragen.
Und wie stellst du dir den bevorstehenden Übergang vor?
Es ist schon auch schwierig und ich mach mir viele Gedanken: wie manage ich meine Finanzen, den Auszug in eine fremde Stadt, die Bewerbung fürs Studium. Da gibt mir einerseits PiB viel Input, aber ich habe halt auch das Glück und Privileg, dass meine Pflegemutter mich zuhause sehr unterstützt und keinen Unterschied zwischen mir und ihren leiblichen Kindern macht. Das weiß ich sehr zu schätzen, weil ich bei anderen Leuten mitbekommen habe, dass es auch weniger glücklich ablaufen kann und auch das Jugendamt nicht immer ein Akteur ist, der das Kind als Individuum in den Fokus stellt, sondern auch Schaden anrichten kann.
Was sollte sich strukturell noch ändern, um Careleaver, die dieses Privileg nicht haben, in Deutschland besser zu unterstützen?
Niemand sucht es sich aus, in einer Pflegefamilie oder im Heim zu leben. Das Kind oder der Jugendliche trägt daran nicht die Schuld und sollte deshalb nicht auch noch finanziell dafür aufkommen müssen. Es ist außerdem nicht selbstverständlich, dass sich jemand mit so einem Hintergrund, der ja definitiv nicht problemfrei ist, eigenständig einen Job suchen kann. Es muss also ein vernünftiges finanzielles Unterstützungssystem her, dazu gehört auch die Abschaffung der Kostenheranziehung.
Gibt es deiner Meinung nach etwas, das Careleaver selber tun könnten?
Man sollte auf sich aufmerksam machen und nicht alles einfach hinnehmen. Und man sollte sich vernetzen und Hilfe suchen, damit man sich gegenseitig unterstützen kann – auch mental.
Wofür bist du besonders dankbar?
Ich bin dankbar, dass sich meine leibliche Mutter unmittelbar nach meiner Geburt dazu entschieden hat, zu gehen. Damit hat sie mir ein Leben ermöglicht, das für die meisten Leute mit so einem Hintergrund – mit drogenabhängigen Eltern, unbekanntem Vater – die absolute Traumvorstellung ist. Und noch dankbarer bin ich dafür, dass meine Pflegemutter und mein Pflegevater sich dazu entschieden haben, Pflegeeltern zu sein und mich aufgenommen haben. Ich bin das Kind meiner Pflegeeltern und das würde ich niemals anzweifeln!
Und zuletzt möchten wir gern wissen, welchen Wunsch du dir erfüllen möchtest?
Ich wünsche mir, dass jetzt alles gut läuft, ich mein Abitur mit einem guten Zeugnis abschließe, eine Wohnung finde und studieren kann. Dass ich da wo ich studiere und lebe, glücklich sein werde. Und auch dass ich am Ende sagen kann, dass sich alles gelohnt hat und ich da angekommen bin, wo ich immer sein wollte!