Interview

»Mein Leben als Careleaver in Kolumbien«

Careleaver gibt es auf der ganzen Welt. Und überall sind die Unterstützungsstrukturen unterschiedlich – mal mehr, mal weniger und mal gar nicht – ausgeprägt. In diesem Interview erzählt Diego Fernado Avila aus Kolumbien von seinen Erfahrungen. Er ist Careleaver und engagiert sich heute als Koordinator von Programmen und Projekten für ASCEP, eine kolumbianische Careleaver Selbstvertretung. Wir danken ihm ganz herzlich für seine Offenheit.

Dieses Interview wurde aus dem Spanischen ins Deutsche übersetzt. Hier können Sie sich das Original-Interview als PDF downloaden.

Wo bist Du geboren und wie bist du aufgewachsen?

Ich bin im Bezirk 20 in Cali im Valle de Cauca (Kolumbien) geboren. Dort bin ich aufgewachsen in einem Haushalt mit meinem Stiefvater und meinem leiblichen Bruder. Meine Mutter lebte nicht mit uns. Soweit man mir erzählte war meine Mutter hochschwanger und nach einer schlimmen Trennung zu meinem Stiefvater zurückgekommen, mit dem sie bereits ein Kind hatte. Nachdem sie mich geboren hatte, verschwand sie und ließ mich bei meinem Stiefvater.

Bei ihm und mit meinem Bruder aufzuwachsen war eine Erfahrung, die mein Leben nachhaltig geprägt hat. Ich bin immer noch dabei, mein Kindheitstrauma aufzuarbeiten, um ein integrer, gesunder, erwachsener Mensch sein zu können. Ich habe viele Erfahrungen mit physischer und psychischer Misshandlung gemacht und hatte eine Kindheit, die von Hunger, fehlender Zuneigung und dem Leben in einer Gegend wie dem Bezirk 20 geprägt war.

Als ich 14 Jahre alt war verstarben mein Stiefvater und mein Bruder und plötzlich war ich ganz allein. Man übergab mich dem ICBF (vgl. mit dem Jugendamt). Bis ich 19 war lebte ich in einem Kinderheim und bekam anschließend einen Platz in dem Verselbstständigungs-Programm der Fundación Formación d’Futuros. Dort bekam ich Unterstützung beim Übergang in ein selbständiges Leben um in der Gesellschaft anzukommen. Derzeit arbeite ich weiter an der Stärkung meiner Fähigkeiten und der Heilung aller Prozesse, denen ich in meiner Kindheit ausgesetzt war.

Welche Erinnerungen sind dir an diese Zeit besonders wichtig?

Eine meiner wichtigsten Erinnerungen an meine Kindheit ist, als ich meine Grundschule beenden konnte. Das hat mich sehr glücklich gemacht. Es war etwas, was ich lange gewollt und dann auch erreicht hatte. Ich erinnere mich an das Treffen danach, ich fühlte mich sehr besonders und hatte das Gefühl nun alles schaffen zu können. Ich erinnere mich auch noch gut daran, als ich mein Abitur gemacht habe. Das war eines der schönsten Erlebnisse in meinem Leben. Ich erinnere mich, dass ich hemmungslos geweint habe, weil ich immer dachte, dass ich niemals mein Abitur machen würde, wegen all der schlechten Startkonditionen mit denen ich aufwuchs. Aber mit viel Anstrengung habe ich es geschafft, meinen Rückstand in der Schule aufzuholen und mit 18 Jahren mein Abitur zu machen.

Wie waren deine Kindheit und Jugend?

An meine Kindheit erinnere ich mich sehr wenig. Viele meiner Erinnerungen sind vor allem von Unzufriedenheit und Mangel geprägt. In meiner Jugend hingegen war ich sehr proaktiv und positiv, habe immer auf das Erreichen meiner Ziele hingearbeite. Ich habe meine Zukunft sehr ernst genommen, war gerne allein und habe viel gelernt.

»Zu wissen, dass ich immer noch am Leben bin und dass viele Menschen noch viel schwierigere oder andere Realitäten haben und es trotz allem geschafft haben, ihre Ziele zu erreichen, treibt mich jeden Tag an«

Wie lebst du heute? Welche Ziele hast Du im Leben?

Heute geht es mir sehr gut. Ich arbeite hart, um Psychologie studieren zu können. Das ist mein Wunsch für meine Zukunft. Um meine berufliche Karriere im psychologischen Bereich zu starten, versuche ich derzeit so viel Geld wie möglich zu sparen, um später den Kopf zum Studieren frei zu haben. Ich bin sehr optimistisch, dass das klappt.

Was hat dir in schwierigen Zeiten geholfen, stark zu bleiben und nach vorne zu schauen?

Zu wissen, dass ich immer noch am Leben bin und dass viele Menschen noch viel schwierigere oder andere Realitäten haben und es trotz allem geschafft haben, ihre Ziele zu erreichen, treibt mich jeden Tag an. Für diese – meine – Ziele zu arbeiten und vorwärts zu kommen, in Widrigkeiten eine Möglichkeit zu sehen und zu wachsen.

Kennst du andere Careleaver und hast Du Kontakt?

Ja, ich bin derzeit Teil von der ASCEP (eine kolumbianische Careleaver Selbstvertretung) als Koordinator von Programmen und Projekten. Dadurch konnte ich noch mehr Kontakte zu Careleavern knüpfen, die ähnliche Geschichten haben wie ich.

Was wünscht Du Dir für Dich selbst und andere Careleaver in der Welt?

Ich wünsche mir, dass wir alle geliebt werden und dass wir alle lieben können, ich wünsche mir auch, dass wir alle eine Familie gründen und unsere persönlichen, beruflichen und moralischen Ziele erreichen können.