Interview

»Es braucht mehr Geld, Ressourcen und Räume, damit sich an vielen Orten Careleaver*innen zusammentun und an den bestehenden Verhältnissen rütteln«

Björn Redmann ist Sozialarbeiter und Mitbegründer des »House of Dreams« Careleaver-Zentrums Dresden unter der Trägerschaft des Kinder- und Jugendhilferechtsvereins. Das »House of Dreams« ist eines der ersten Projekte im Brückensteineverbund. Björn und seine Kolleg*innen vom »House of Dreams« haben das diesjährige Careleaver Festival organisiert und veranstaltet. Dort wurde Björn von den Festivalteilnehmenden Tanja und Kim interviewt. 

Kim und Tanja: Erzähl uns gerne etwas zu deiner Person und zu deiner Aufgabe bei House of Dreams und vielleicht auch, was das House of Dreams ist.

Björn: Ich bin Sozialpädagoge und kein Careleaver. Das heißt, ich habe mein Aufwachsen zu Hause verbracht – bei meinen Eltern auch nicht spannungsfrei, aber nicht zu vergleichen mit der Situation, die Careleaver*innen durchmachen. Ich lebe schon ganz lange in Dresden und arbeite da unter anderem im House of Dreams im Careleaver-Zentrum. Wir haben dieses Careleaver-Zentrum gemeinsam mit jungen Menschen aufgebaut, die als Careleaver*innen einen Teil ihres Aufwachsens nicht zu Hause verbracht haben, sondern in öffentlicher Verantwortung. Und wir haben über viele, viele Seminare, die wir gemacht haben, noch bevor es das House of Dreams gab, mitbekommen, dass junge Menschen, die nicht zu Hause aufgewachsen sind, besondere gemeinsame Themen haben und besondere, gemeinsame und ähnliche Schwierigkeiten haben. Das hat uns dann dazu gebracht, mit den jungen Menschen gemeinsam so einen Ort zu schaffen – weil es nicht fair ist, wenn wir in öffentlicher Verantwortung aufwachsen, dass das dann so schlecht läuft! Dann muss irgendjemand da Verantwortung übernehmen und bereit stehen für Fragen, Anregungen, Probleme auch ganz praktischer Art. Und dafür ist das Careleaver-Zentrum auch da.

Kim und Tanja: Wie bist du denn dazu gekommen, dich zu engagieren?

Björn: Also direkt nach meinem Studium, ist schon eine Weile her, habe ich zweieinhalb Jahre in einer Wohngruppe gearbeitet und habe da auch Dinge gemacht, die ich im Nachhinein nicht so lustig finde. Ich habe dann irgendwann in den vielen Jahren danach verstanden, was ich da falsch gemacht habe und glaube, dass so ein Teil der Motivation ist, ein paar Sachen wieder gut zu machen. Und ansonsten bin ich wütend über die Verhältnisse, in denen wir »Soziale Arbeit« – in Anführungsstrichen – organisieren und finde, dass gerade die Jugendhilfe an vielen Stellen keinen guten Job macht. Ich will da gerne einen Teil zu beitragen – und zwar nicht die Probleme zu lösen, sondern auf die Probleme hinzuweisen. Wir als Careleaver-Zentrum in Dresden haben vielleicht 150 Menschen, die zu uns kommen. Wir haben aber mit Sicherheit 1,5 Tausend allein in Dresden, die Careleaver*innen sind. Das heißt, wir erreichen natürlich nicht alle und wir werden auch niemals alle erreichen. Das ist auch nicht unser Job, sondern unser Job, finde ich, ist es, auf Probleme und Missstände hinzuweisen und denjenigen, die Verantwortung tragen, einen Weg zu bauen und mit ihnen zu reden, wie man diese Dinge abstellen kann im bestehenden Jugendhilfesystem bzw. das Jugendhilfe System so umzubauen, dass es wirksamer wird. Und da sehe ich unseren Job. Ich glaube, dass es auch darum geht, einzelnen jungen Menschen eine Unterstützung zu sein. Ganz praktisch auch.

Kim und Tanja: Nimmst du eine Wirkung eurer Arbeit wahr?

Björn: Mein Fokus liegt neben der Erfüllung oder Befriedung der Bedarfe und dem Unterstützen von einzelnen jungen Menschen, eben vor allem darauf, auf Probleme und Missstände hinzuweisen und auch konstruktiv daran mitzuarbeiten, dass sich das verändert. Und das gelingt uns in Dresden tatsächlich auch: Wir haben mittlerweile gute Kontakte ins Jugendamt hinein und sitzen auch im Jugendhilfeausschuss. Mit Alex sitzt auch ein Careleaver im Jugendhilfeausschuss in Dresden. Das Jugendamt in Dresden hört uns tatsächlich zu und fragt uns auch: Was können wir denn tun? Da haben wir, glaube ich, echt was erreicht, dass wir mittlerweile wahrgenommen werden als House of Dreams, aber auch als Kinder- und Jugendhilferechtsverein, der das House of Dreams trägt. Als ein Partner für Veränderungsprozesse, der aber trotzdem nicht stillhält und ruhig bleibt, wenn Dinge – beim Jugendamt zum Beispiel – immer noch oder immer wieder falsch laufen.

                           

»Ich erlebe ganz häufig, dass es bei denen, die uns Häuser vermieten, die Vorstellung gibt, dass gerade "Heimkinder" sich nicht benehmen können.«

Tanja, Kim und Björn (von links) im Interview auf dem Careleaver Festival 2022

Kim und Tanja: Würdest du eher den Begriff »Heimkind« oder Careleaver bevorzugen?

Björn: Ja, also Careleaver finde ich grundsätzlich besser. Ich habe normalerweise echt Schwierigkeiten mit der Verenglischung meiner Sprache. Aber wir haben ja mit ganz vielen über diesen Begriff gesprochen und ich habe verstanden, dass viele sich unter diesem neuen Begriff Careleaver, unter Careleaver*innen-Sein, besser subsumieren und besser verorten können als bei diesem »Heimkind-Ding«. Und deswegen ist es auch gar nicht meine Entscheidung, sondern die Entscheidung der jungen Menschen, wie sie benannt sein wollen. Und da werden wir nie alle Perspektiven abdecken. Aber bisher habe ich den Eindruck, dass der Begriff Careleaver*in besser ist als Heimkind oder ehemaliges Heimkind.

Tanja und Kim: Wenn du über Selbstbezeichnungen sprichst – es geht ja darum, eine Bezeichnung für sich zu finden, die empowernd, also selbstermächtigend ist – welche Vorurteile und Klischees begegnen dir in deiner Arbeit auch in Bezug auf Careleaver*innen?

Björn: Wir fahren ganz viel mit jungen Menschen weg – also machen Wochenenden da oder dort – und ich erlebe ganz häufig, dass es bei denen, die uns Häuser vermieten, die Vorstellung gibt, dass gerade »Heimkinder« sich nicht benehmen können. Das ist, glaube ich, so ein gängiges Klischee, was echt zu Herausforderungen und Problemen führt, eben Unterkünfte zu finden, wo wir trotzdem sein können. Und dann so was wie fehlende Leistungsbereitschaft oder im Bildungsbereich: Naja, schaffen die das und lohnt sich das überhaupt? Und mit Geld nicht umgehen zu können. Solche Dinge… »Dreckig und ungewaschen« würde mir noch einfallen, aber das sagt ja niemand! Das erlebe ich auch nicht in dem Maße, aber ich könnte mir vorstellen, dass das auch sowas ist, was Menschen als Vorurteil in sich drin haben.

Tanja und Kim: Erlebst du da einen Unterschied zwischen Pflegekindern versus stationäre Einrichtungen oder Wohngruppen? Gibt es unterschiedliche Vorurteile und Klischees?

Björn: Also ich glaube stigmatisierender ist es, in der Heimerziehung gewesen zu sein und weniger stigmatisiert ist man, glaube ich, als Pflegekind. Weil da weiß man auch immer nicht: Ist das vielleicht Verwandten-Pflege? Die Eltern sind vielleicht gestorben und er oder sie lebt bei der Tante – dann ist es aber trotzdem ein Pflegeverhältnis. Da wird man, glaube ich, nicht so automatisch mit Vorurteilen überhäuft. In der Heimerziehung ist das tatsächlich anders. Als Pflegekind kannst du dich, denke ich, außerdem auch eher verstecken: Du musst dieses Merkmal, dass du nicht zuhause bei den eigenen Eltern aufwächst, gar nicht so in Vordergrund stellen, weil du gehst ja tatsächlich nach Hause und manchmal nennen Pflegekinder ihre Pflegeeltern tatsächlich auch Eltern oder Vater, Mutter, Mama oder Papa. Aber wenn junge Menschen aus der Heimerziehung von der Schule nach Hause gehen, dann gibt‘s immer so eine Frage, die wir am Anfang stellen: Welchen Begriff habt ihr? Geht ihr nach Hause, geht ihr in die WG, geht ihr ins Heim? Also wir geben das gar nicht vor, sondern wir fragen einfach: Wenn ihr von der Schule zurück geht, dahin, wo ihr morgens hergekommen seid – wie bezeichnet ihr das eigentlich? Ja, und daran macht sich vieles deutlich.

   

»Wir versuchen, einen Rahmen zu schaffen, in dem junge Menschen sich selbst als wirksam erleben können und auch sie in die Lage zu versetzen, sich außerhalb der bestehenden, für sie vorgesehenen Plätze zu artikulieren.«

Tanja und Kim: Wie stärkt ihr junge Menschen im House of Dreams gegen solche Vorurteile und Klischees?

Björn: Wir versuchen, einen Rahmen zu schaffen, in dem junge Menschen sich selbst als wirksam erleben können und auch sie in die Lage zu versetzen, sich außerhalb der bestehenden, für sie vorgesehenen Plätze zu artikulieren. Wir bringen junge Menschen aus dem House of Dreams in Kontakt mit Fachkräften, mit verantwortlichen Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe beispielsweise. Wenn man das eine Weile tut – wir waren vorletzte Woche im Bundestag bei einer Anhörung im Familienausschuss – das macht natürlich junge Menschen dann ganz groß. Die fühlen sich dann wichtig genommen und sie sind ja auch wichtig genommen! Also wir versuchen den Kontakt zu Politik herzustellen, zu Verwaltung herzustellen, zu Fachpolitik und auch zu Fachverbänden. Und wir versuchen auch im House of Dreams Rollen zu vermitteln. Zum Beispiel: Ich bin der, der dienstags kocht. Oder ich bin der, der immer darauf achtet, dass dieses oder jenes besorgt wird. Oder ich bin eher jemand, der neue Menschen willkommen heißt. So bedeutungsvolle Rollen zu vermitteln, ist etwas, was wir viel versuchen.

Außerdem gibt es noch diese Peer-Beratung, also die Beratung von Gleich-Betroffenen. Das ist etwas, was ganz automatisch im Careleaver-Zentrum – im House of Dreams – passiert, weil da halt Careleaver*innen relativ viel Zeit verbringen und sich gegenseitig viel erzählen. Elsa Thurm, Sarah Preusker und ich, wir versuchen uns an manchen Stellen ein bisschen zurückzunehmen, um nicht so im Vordergrund zu stehen. Und dann passiert zwischen diesen Careleaver*innen ganz viel, was es sonst nicht geben würde, wenn wir da so stark und präsent wären.
Wir schaffen auch Räume für Selbstverwaltung: Die jungen Menschen können durchaus einen Teil der Zeit ganz alleine dort sein. Elf Careleaver*innen haben einen Schlüssel und können Tag und Nacht rein und raus, so wie sie wollen. Das heißt, wir versuchen, Verantwortung zu übergeben. Das ist ja vielleicht auch etwas, was junge Menschen stärkt.

Tanja und Kim: Ein größerer Raum als das House of Dreams ist ja jetzt das Careleaver Festival – was wünschst du dir für das Festival, für die Teilnehmenden und auch darüber hinaus für die Zukunft?

Björn: Ich würde mir wünschen, dass die Careleaver*innen, die hier auf dem Festival sind, sich als Gruppe verstehen. Und das zweite ist, dass mir ganz recht wäre, wenn der Careleaver-Rat – dessen Mitglieder sich hier zum Ersten Mal in Präsenz sehen – eine Rolle findet und vielleicht auch wichtiger, stärker, größer wird. Das wäre mir wichtig.
Ja und dass hier nichts schiefgeht. Wir haben ja auch Menschen dabei, die haben Diskriminierungserfahrungen gemacht. Wir haben hier Menschen, die nicht so in dieses binäre Mann-Frau-Ding reinpassen. Und da gibt es Verunsicherungen, wenn so viele Menschen aufeinandertreffen, und natürlich unterschiedliche Interaktionen, die wiederum auch zu Stigmatisierungen oder Diskriminierungen führen können. Damit haben wir auch ein bisschen Erfahrung, das ist nicht so ganz auszuschließen. Aber dass wir damit einen guten Umgang finden, das wäre mir wichtig. Und darüber hinaus, dass wir für die Arbeit der Careleaver*innen in Deutschland mehr Geld bekommen. Und zwar nicht wir als Hauptamtliche, sondern bezüglich des Paragrafen 4a SGB VIII »Selbstvertretung von Betroffenen« – dass dafür Geld, Ressourcen und Räume zur Verfügung stehen, damit sich an möglichst vielen Orten Careleaver*innen zusammentun und an den bestehenden Verhältnissen rütteln, die nicht gut sind…die eher scheiße sind.