Fiona Grasmann:

»Es ist schön, wenn man etwas gemeinsam angeht und merkt: da entsteht eine Form von Solidarität und Communitygefühl«

Ohne solidarischen Einsatz und Achtsamkeit füreinander funktioniert eine Gesellschaft, in der bestimmte Personengruppen wie zum Beispiel Careleaver strukturell benachteiligt werden, nicht. Auch für die Initiative Brückensteine Careleaver spielt Solidarität eine wichtige Rolle: 71 Ehrenamtliche engagieren sich derzeit in den Brückensteinprojekten. Eine davon ist Linda, die sich als Mentorin für die Belange einer Careleaverin einsetzt. In diesem Interview lernen wir sie und Fiona Grasmann, Pädagogische Projektmitarbeiterin beim Careleaver*Kollektiv Leipzig, und ihre Gedanken zum Thema Solidarität etwas näher kennen.

2020 war ja für viele nicht das beste Jahr – daher: Was war für euch in den vergangenen Monaten ein positives Highlight in Bezug auf eure Arbeit?

Linda: Für mich ist das positive Highlight, dass ich überhaupt zum Careleaver*Kollektiv Leipzig gekommen bin und sich auch eine Zusammenarbeit ergeben hat, die nach wie vor aufrechterhalten wird.

Fiona: Obwohl es durch die Corona-Situation immer wieder Schwierigkeiten gab und der Kontakt zu neuen Careleavern schwer herzustellen war, war bei uns das Schöne, dass wir inzwischen echt viele Anfragen von Freiwilligen haben, die Lust haben sich bei uns zu engagieren! Zum Beispiel ist Lina bei uns in der Organisation tätig und hat unseren Kalender für 2021 intensiv unterstützt. Dann gibt es – wie auch Linda – einzelne Personen, die sich im Mentoring, also in der 1-zu-1-Begleitung von Careleavern, einsetzen. Und wir haben inzwischen einige eigenständige Projekte von Freiwilligen: eine Juristin, die bei uns einen Rechts-Check macht; es soll gerade eine Pflegekinder-Betroffenengruppe aufgebaut werden und außerdem ist ein sexualpädagogisches Angebot in der Entwicklung. Also insgesamt super viele eigenständige Projekte, die durch freiwillige Unterstützung geschaffen und auch umgesetzt werden.

 

Fiona, was genau ist das Careleaver*Kollektiv Leipzig und wie ist es entstanden?

Fiona: Entstanden ist das Careleaver*Kollektiv Leipzig im April 2019. Wir werden gefördert durch die DROSOS STIFTUNG und waren bis Ende Oktober in der Pilotphase – das heißt, wir haben erprobt, ausprobiert und auch wieder Dinge verworfen mit dem Ziel herauszufinden, was für ein lokales Angebot für Careleaver in Leipzig sinnvoll ist. Wir haben entsprechend ein Konzept entwickelt, das drei Säulen und ein viertes Extrathema vorsieht: die drei Säulen sind »Support«, »Lobby« und »Transfer«. »Support« bedeutet Angebote, die sich direkt an Careleaver richten, wie Beratungsformate auf verschiedenen Ebenen, Workshops oder auch das Mentoring. Auf der Lobbyebene sind die politische Arbeit, Öffentlichkeits- und Pressearbeit. Und bei »Transfer« geht es um Fachveranstaltungen und Fortbildungen für Fachkräfte. Das Extrathema ist, dass wir an einem Konzept für ein inklusives Kultur- und Wohnprojekt für Careleaver in Leipzig arbeiten – wir nennen es gerade noch inoffiziell das »Careleaver*-Haus«. Das sind die vier Stränge, die unser Projekt aktuell ganz gut beschreiben.

»Es geht darum, der Person das Gefühl zu geben, dass da jemand außerhalb der offiziellen Stellen ein Ohr für sie hat«

Linda, ehrenamtlich engagierte Mentorin einer Careleaverin

Und Linda, wie bist du zum Careleaver*Kollektiv gekommen?

Linda: Tatsächlich ganz simpel übers Internet. Ich habe in den letzten Jahren überlegt, wie ich mich engagieren kann und habe jetzt dieses Jahr beschlossen, dass ich etwas tun möchte. Das Careleaver*Kollektiv hatte eine Anzeige über ein Portal (die Freiwilligenagentur) geschaltet, dass es Leute sucht und ich bin ganz zufällig darauf gestoßen und habe dann eine Email geschrieben. So ist der Kontakt entstanden.

Und was hat dich konkret dazu inspiriert, dich ehrenamtlich zu engagieren?

Linda: Ich finde es prinzipiell gut, wenn Leute sich ehrenamtlich engagieren. Im Studium hatte ich leider nicht genug Zeit oder den Kopf dafür. Jetzt stand ich vorm Staatsexamen und dachte, das ist ein ganz guter Moment. Die Corona-Situation hat das auch noch ein bisschen befeuert und so hat sich das nach einem längeren Prozess ergeben, weil es auch einfach toll ist, wenn man sich ein Stück weit engagiert und vielleicht damit etwas Gutes tun kann. Inzwischen bin ich Mentorin von einer Mentee und in der schönen Position zu unterstützen – egal, in welchen Belangen. Also wenn die Person jemanden zum Reden braucht, kann sie mich anrufen oder wenn sie Hilfe bei Amtsterminen oder Wohnungssuche braucht. Dann versuche ich zum Beispiel Anlaufstellen für die Person zu finden, damit ihr – nachdem sie aus dieser betreuten Situation kommt – der Übergang erleichtert wird und sie ihr Erwachsenenleben gut strukturieren kann. Das kann sich auch über gemeinsame Hobbyaktivitäten erstrecken, wie zum Beispiel Eis essen gehen oder einfach gemeinsam Zeit verbringen, um der Person das Gefühl zu geben, dass da jemand außerhalb der offiziellen Stellen ein Ohr für sie hat.

Was kommt dir, Fiona, in Bezug auf euer Projekt in den Sinn, wenn das Stichwort »Solidarität« fällt?

Fiona: Die Grundlage der Arbeit des Careleaver*Kollektiv Leipzig ist, dass wir uns mit der Zielgruppe solidarisieren und uns solidarisch zeigen. Ich glaube, ein wichtiger Punkt bei uns ist außerdem, dass wir Strukturen schaffen, damit sich auch Menschen aus der Zivilgesellschaft solidarisch mit der Zielgruppe zeigen können – wie in diesem Fall jetzt Linda, die sich bei uns gemeldet und das Mentoring angenommen hat. Und durch diese Strukturen, die wir im Projekt schaffen, ermöglichen wir Solidarität der Zivilgesellschaft um darüber wiederum sozialen Ungleichheiten entgegenzuwirken und eine Form von Ressourcenumverteilung bzw. -teilung zu ermöglichen.

»Seitens der Politik besteht meines Erachtens das große Problem, dass sie häufig die Lebensrealität dieser jungen Menschen missachtet«

Fiona Grasmann, Pädagogische Projektmitarbeiterin beim Careleaver*Kollektiv Leipzig

In welchen Momenten in der Arbeit verspürt ihr ein Solidaritäts- oder auch Community-Gefühl? Wie glaubt ihr, entsteht dabei Solidarität?

Linda: Ich glaube, das ist eine schwierige Frage für mich, weil meine Arbeit bisher meistens ein Dreiergespann zwischen Fiona, meiner Menti und mir ist. Bis jetzt gab es da nur einmal eine außenstehende Person, die mit dabei war, deswegen entsteht das Gefühl für mich ganz besonders mit Fiona. Ich glaube, ich bin noch nicht lang genug dabei um dazu mehr sagen zu können.

Fiona: Ja, da ist vielleicht das Mentoring tatsächlich nicht das passende Beispiel, da es ja eine 1-zu-1-Beziehung ist. Wenn ich darüber nachdenke, wo bei uns im Projekt Community- oder Solidaritätsgefühle entstehen, sind das meistens die Situationen, in denen man ein gemeinsames Ziel verfolgt oder aktiv nach Veränderungen strebt. Wir hatten jetzt in letzter Zeit gelegentlich diese Situation im Plenum: da arbeiten wir gerade an einem neuen Careleaver-Instagram-Account, der Care.2.Go heißt, und produzieren ein kleines Video zum Thema Leaving Care und über die Abkehr vom Begriff »Heimkind«, der ja sehr negativ besetzt ist und auch oft als Schimpfwort missbraucht wird. Dazu arbeiten gerade zwei Careleaverinnen zusammen mit einem ehrenamtlich engagierten Kameramann, der sein Know-How einbringt und ich engagiere mich auch mit. Wir bringen alle unsere Ressourcen ein, die in ganz verschiedenen Bereichen liegen. Und das ist schon schön, wenn man merkt, man geht das so gemeinsam an und da entsteht eine Form von Solidarität und Communitygefühl!

An welchen Stellen fehlt euch Solidarität – zum Beispiel in Hinblick auf die Politik oder Zivilgesellschaft?

Linda: Ich würde sagen, dass diese ganze Problematik einfach viel zu wenig präsent ist und es deshalb einfach schon nicht solidaritätsstiftend sein kann. Aus meiner persönlichen Erfahrung bin ich vorher mit dem Thema eigentlich kaum in Kontakt geraten und ich würde schätzen, dass das – zumindest in meinem Umfeld – in der Regel so ist. Es muss überhaupt erstmal das Problem erkannt werden und bisher wird es einfach nicht besonders in der Gesellschaft diskutiert. Wahrscheinlich, weil es auch unangenehm ist, wie das ja oft bei bestimmten Themen der Fall ist. Es bräuchte also erstmal ein Gehör, um zu verstehen, dass es viele Betroffene gibt, die häufig nicht wissen, wie es nach einer Betreuungssituation weitergeht und die keine schöne, heile Familie haben.

Fiona: Ich stimme Linda auf jeden Fall zu. Ich fand es auch spannend, dass das Thema Leaving Care in meinem Studium, sowohl im Bachelor als auch im Master, nie aufkam – also es wird selbst in der Ausbildung nicht thematisiert, was ich auf eine Art erschreckend finde! Außerdem habe ich manchmal das Gefühl, dass ein Großteil der Zivilgesellschaft ein bisschen müde ist, eigene verankerte Muster und diesen »Heimkind«-Begriff, der ja so verbreitet ist, zu überdenken – was er bedeutet und was diese Menschen vielleicht auch für Ressourcen und Stärken mitbringen und nicht nur dieses negativ behaftete Bild von Careleavern zu haben. Ich glaube, da besteht viel Potenzial, dass man noch weiterdenken könnte. Seitens der Politik besteht meines Erachtens das große Problem, dass sie häufig die Lebensrealität dieser jungen Menschen missachtet: zum Beispiel, dass die verlängerte Jugendphase nicht anerkannt wird, was Auswirkungen darauf hat, wie lange Hilfe gewährt wird oder auch Thema Kostenheranziehung; dass die Jugendlichen 75 Prozent ihres Gehalts abgeben müssen und somit keinerlei Chancen haben, für ihre Selbstständigkeit Geld anzusparen. Und man könnte wahrscheinlich noch viele andere Punkte nennen…

Was könnte eurer Meinung nach dazu beitragen, ein Solidaritätsgefühl, was es jetzt noch nicht gibt, zu stärken?

Fiona: Ich denke, um ein Solidaritätsgefühl mehr zu verbreiten, müsste man an dem Punkt ansetzen, dass man den Begriff »Heimkind« aufarbeitet und mit ihm anders umgeht – ihn öffnet für sämtliche positive Besetzungen. Ich glaube, wenn ein Begriff auch wirklich identitätsstiftend wirkt, dann wollen sich junge Menschen viel mehr selbst damit identifizieren, den Begriff vielleicht auch verwenden und sich dann in Netzwerken und Communities formieren. Das wird zum Beispiel über den Begriff »Careleaver« versucht.

Fiona, worauf freut ihr euch momentan im Projekt besonders?

Fiona: Was bei uns gerade ganz schön ist – wir haben da lange dran gearbeitet und jetzt ist es soweit (lacht) – dass wir Kontakt zu Careleavern haben, die Lust haben, sich auf einer Lobbyebene und einer Selbstvertretungsebene einzubringen. Und da sind wir eben einerseits gerade mit diesem Instagram-Account beschäftigt, um nach außen zu treten, und mit einer anderen Careleaverin arbeiten wir am Thema Politische Vernetzung von Careleavern. Wir freuen uns darüber, dass es in diese Richtung ein bisschen Aufwind gibt. Und außerdem soll es im Frühjahr ein Zusammentreffen von Leipziger Stadträten und Careleavern geben – das ist ein politisches Moment, auf das wir uns freuen.