Antje Krone:
Das Careleaver-Zentrum Thüringen, kurz »CLZT«, ist seit 2019 Anlauf- und Beratungsstelle für Thüringer Careleaver, die Hilfe oder Begleitung brauchen und sich gerne mit anderen Careleavern vernetzen wollen. Auch beim Umzug in die erste eigene Wohnung bieten Antje Krone, Antje Müller und Julia Zipper Unterstützung an – denn Fragen zum Thema Wohnen gibt es viele: Wie finde ich eine Wohnung? Was mache ich, wenn eine Bürgschaft der Eltern verlangt wird? Wie finanziere ich mir meine Ausstattung? In diesem Interview erzählt uns Antje Krone, welche Herausforderungen auf viele Careleaver warten, wenn sie aus der stationären Jugendhilfe ausziehen.
Foto: Julia Zipper (links) und Antje Krone (rechts)
Hallo Antje, erzähl uns ein bisschen von dir – wie bist du zum CLZT gekommen und was machst du dort?
Ich bin seit 2006 bei unserem Verein Jugendberufshilfe Thüringen e. V. und war in dieser Zeit Mitarbeiterin in verschiedenen Projekten, bei denen es immer um Jugendsozialarbeit mit dem Schwerpunkt berufliche Orientierung und Vermittlung von Ausbildungen ging. Ich glaube, ich bin hier im Verein dafür bekannt, dass ich vielseitig bin und mich gerne auf neue Projekte einlasse und deswegen wurde ich dann gefragt, ob ich das Projekt CLZT bzw. die Brückensteine gerne mit begleiten würde. Und so habe ich 2019 angefangen zusammen mit Julia Zipper und Antje Müller.
Und was bereitet dir an deiner Arbeit ganz besonders viel Freude?
Am meisten Freude macht mir die große Vielseitigkeit – wir haben ja viele Standbeine und Säulen im CLZT. Das macht mir viel Spaß, weil ich dadurch sehr unterschiedliche Sachen machen kann. Also einmal die Arbeit mit den Careleavern selbst, aber auch mit Fachkräften, und es ist immer wieder eine Herausforderung, sich mit neuen rechtlichen Dingen und Zusammenhängen zu beschäftigen, die jedes Projekt mit sich bringt. Dadurch bleibt man im Kopf fit, auch wenn es manchmal anstrengend ist und wir müssen immer im Blick behalten, was jetzt das günstigste für das Land Thüringen in Bezug auf die Initiative ist – also wie helfen wir am besten den Careleavern hier in Thüringen und was bringt uns am meisten voran?
Wir möchten heute die Wohnsituationen von Careleavern näher beleuchten. Welche typischen Probleme im Zusammenhang mit dem Thema Wohnen begegnen euch immer wieder?
Häufig liegt das Problem nicht im Übergang selbst, sondern eher in der Gestaltung des Übergangs in die eigene Wohnung – das wird manchmal auf emotionaler Ebene zu wenig begleitet. Es ist dann eben einfach nur ein »Vorgang«, also der Auszug wird vorbereitet und es wird eine Wohnung gesucht, das machen die Betreuer*innen der stationären Einrichtungen auch, aber dann werden die Leute quasi in ihre Wohnungen gesetzt, die Betreuer*innen sind »weg« und es findet kein Kontakt mehr statt.
Außerdem ist für mich eine typische Problemlage, dass die Erstausstattung, die über die Jugendhilfe finanziert wird, regional super unterschiedlich ist. Es gibt Regionen, da bekommen sie nichts bzw. es ist nichts festgeschrieben, sondern sie müssen erstmal alles beantragen. Dann gibt es Regionen, wo es im Schnitt 500€ gibt und welche – zum Beispiel in Erfurt Stadt – da gibt es Beträge bis zu 1700€. Es ist eben sehr unterschiedlich und ich behaupte mal, dass die Preisunterschiede innerhalb von Thüringen jetzt gar nicht so groß sind, dass das gerechtfertigt wäre.
Es gibt noch ein konkretes Beispiel zum Thema Bürgschaft: in den letzten Jahren passiert es verstärkt, dass Vermieter*innen – egal, ob es private oder Wohnungsbaugesellschaften sind – bevor sie junge Menschen nehmen, erst einmal wissen wollen, ob sie genug verdienen um eine Kaution zu bezahlen, was ja an sich regulär und in Ordnung ist. Aber sie fragen zusätzlich nach einer Bürgschaft und man findet mittlerweile kaum noch Vermieter*innen, die nicht beides verlangen, zumindest in den Städten wie Erfurt und Jena. Wir haben schon viel darüber diskutiert, dass das gar nicht unbedingt rechtlich zulässig ist und wenn wir schon keine Handhabe dagegen haben, haben sie Careleaver noch weniger. Aber die Vermieter*innen sitzen da eben am längeren Hebel und sagen, nimm die Wohnung mit der Bürgschaft, sonst nimmt sie jemand anderes mit Familienhintergrund, der sie vorlegen kann.
Und was ich außerdem festgestellt habe: junge Menschen, die vom Jobcenter finanziert werden, kriegen eher eine Wohnung, weil die Miete direkt vom Jobcenter weitergereicht wird, als ein Careleaver, der sich regulär eine Ausbildung gesucht hat und auf den eigenen Füßen steht ohne finanziell abhängig zu sein. Das finde ich persönlich super ungerecht!
Wie unterstützt ihr denn im Allgemeinen Careleaver konkret, wenn sie sich mit Anliegen ums Thema wohnen an euch wenden?
Das ist immer sehr individuell, wie der- oder diejenige gerade selber drauf ist und ob ich quasi »Aufträge erteilen« und sagen kann, pass auf: hier sind die Wohnungsbaugesellschaften an dem Ort, wo du hinmöchtest, bewirb dich da schon mal, füll einen Bogen aus oder guck bei »WG gesucht«, ob du was findest – in den Studierendenstädten geht das ganz gut – und ich stehe zur Verfügung, wenn du etwas brauchst. Wir sind da auch immer im Austausch mit den stationären Einrichtungen, an die ich Informationen weitergebe und erwarte, dass sich auch die Betreuer*innen kümmern. Aber manchmal scheitert es daran, dass die nicht zwei Stunden lang aufwenden können, um jemanden bei der Wohnungsbaugesellschaft telefonisch zu erreichen und da ich sowieso am Schreibtisch sitze, sage ich dann, ich mach das einfach und rufe auch zwanzig Mal an bis dann endlich jemand rangeht.
Fällt dir ein konkretes Fallbeispiel zur Veranschaulichung der Schwierigkeiten ein, mit denen manche Careleaver konfrontiert werden?
Ja, wir beraten aktuell zum Beispiel einen Careleaver namens Chris, bei dem noch eine weitere Schwierigkeit hinzukommt. Er ist 2015 aus Nigeria geflüchtet und über Umwege in Thüringen gelandet und hat letzten August in Erfurt eine Ausbildung zum Maßschneider begonnen – was in Thüringen eine sehr seltene Ausbildung mit wenig Ausbildungsplätzen ist. Chris lebt aktuell noch in einer Wohngruppe in Suhl und ist in dieser Einrichtung, die ihn immer in seinem Ausbildungsvorhaben unterstützt hat, auch sehr gut aufgehoben. Es hat auch alles soweit geklappt, er hat in seinem Betrieb erst ein Praktikum gemacht und der Chef hat sofort gesagt, ich stell dich ein.
Seit 1. August 2020 sucht Chris nun eine Wohnung in der Nähe seiner Ausbildungsstätte. Bei ihm kommt noch hinzu, dass Geflüchtete ja immer eine Wohnsitzauflage haben, die sich, glaube ich, immer auf den jeweiligen Landkreis bezieht. In diesem Fall hat er bei der Ausländerbehörde in Suhl beantragt, die Wohnsitzauflage innerhalb des Bundeslandes zu verschieben. Das wurde erst einmal angelehnt mit der Begründung, dass er erstmal drei Monate lang die Ausbildung absolvieren muss, um dann erneut einen Antrag stellen zu können. Zu diesem Zeitpunkt war Chris noch sehr positiv, die drei Monate gingen schnell um und dann fing für ihn die Berufsschule an, die nochmal weiter weg ist als sein Ausbildungsbetrieb. Insgesamt muss er zur Berufsschule drei Stunden Fahrweg auf sich nehmen. Dadurch wurde der Druck für ihn immer größer, am Ausbildungsort eine Wohnung zu finden, denn von Erfurt zur Berufsschule dauert es nur eine halbe Stunde.
Jetzt hat ihm die Ausländerbehörde gesagt, er müsse 6 Monate Gehalt nachweisen, damit sie nochmal darüber nachdenken können, ob er den Wohnsitz ändern darf, und er solle schon einen Mietvertrag vorlegen. Das ist für mich völlig abstrus – er hat noch gar keine Erlaubnis umzuziehen, soll aber schon einen Mietvertrag unterschreiben. Ich habe das auch immer wieder hinterfragt, aber es ist wohl so gesetzlich geregelt … Asylrecht ist ein unglaublich großes und komplexes Thema.
Hast du den Eindruck, dass zum Beispiel Careleaver, die jetzt aus einer Wohngruppensituation kommen, eher Lust auf eine eigene Wohnung haben?
Ja, die meisten gehen schon gleich so ins Gespräch, dass sie nach den vielen Jahren in Wohngruppen sagen, ich will etwas Eigenes haben. Es ist übrigens zum Teil so, dass auch WGs Bürgschaften brauchen, weil Vermieter*innen die Zimmer einzeln vermieten und es nicht immer über Untermietverträge läuft. Im Fall von Chris war es schon so, dass er recht früh gesagt hat, ich will lieber eine eigene Wohnung, und er hat sich da sehr rege selber drum gekümmert. Die Careleaver, mit denen ich arbeite, wohnen alle nicht in WGs. Ich glaube aber auch, dass sie sich teilweise keine Gedanken darüber machen, was es in der Konsequenz bedeutet alleine zu leben. Das heißt eben nicht nur, ich habe meine Freiheit und kann machen was ich will, Fernsehen gucken wann ich will oder ins Bett gehen, wann ich will, sondern dass es eben tatsächlich bedeutet allein zu sein. Das ist etwas, womit sich die jungen Menschen dann auseinandersetzen müssen. Wobei ich festgestellt habe, dass die, mit denen ich arbeite und die jetzt alleine wohnen, sich ein ganz gutes Netzwerk aus Freund*innen geschaffen haben. Ich habe jetzt noch keinen erlebt, der gesagt hat: ich bin furchtbar einsam, obwohl ich bei manchen das Gefühl habe, sie sind es – auch wenn sie es nicht sagen.
An welcher Stelle siehst du strukturelle Versäumnisse und was müsste deiner Meinung nach geändert oder verbessert werden, um Careleavern den Übergang in die eigene Wohnung zu erleichtern?
Ich habe durch Chris und auch durch die Telefonate mit Wohnungsbaugesellschaften festgestellt, dass das Thema Leaving Care in Thüringen überhaupt nicht präsent ist. Die speziellen Schwierigkeiten dieser Zielgruppe am Übergang in die eigene Wohnung, ins selbstständige Leben, sind überhaupt nicht bekannt. Hier in Erfurt und vermutlich in anderen städtischen Wohnungsbaugesellschaften ist es so, dass sie eigene Sozialarbeiter*innen haben, die sich um so Sachen wie Mietausfälle kümmern. Ich habe mit drei von ihnen gesprochen und die haben gesagt, »Care-Was? Worum geht’s da«? Sie haben auch gesagt, wir haben möglicherweise Careleaver in unseren Wohnungen, aber wir wissen es gar nicht. Die Zielgruppe ist ihnen nicht bewusst und die Thematik müsste mehr in die Öffentlichkeit gerückt werden, was ja mit der Kampagne #mehr als careleaver schon begonnen hat.
Ich denke, es muss viel mehr und immer wieder ins Gespräch gebracht werden, damit Wohnungsbaugesellschaften oder auch privaten Vermieter*innen klar wird, dass da auch Menschen kommen, die keinen familiären Rückhalt haben, dass dadurch eine Bürgschaft einfach nicht möglich ist und es deshalb Alternativen geben muss. Manchmal findet man noch kleine Gesellschaften oder private Vermieter*innen, die sagen, es reicht ihnen zu gucken, wie viel Geld verdient die Person und reicht es für die monatliche Miete. Und schön ist es, wenn es da noch jemanden im Hintergrund gibt, der sich darum kümmert – da sehe ich auch unsere Rolle als CLZT, dass wir Ansprechpartnerinnen auch für die Vermieter*innen sind.
Welche Careleaver-Geschichte hat dich zuletzt besonders inspiriert und warum?
Also Chris ist auch ein Beispiel, was mich jetzt zuletzt viel beschäftigt und gerührt hat, weil er mit Allem trotzdem so positiv umgeht. Ich habe mit ihm ja intensiv und lang über das Thema Wohnen gesprochen und er sagte, ja, ich finde das ungerecht, dass junge Menschen mit Familien im Hintergrund so viel bessere Chancen haben, aber Chris bleibt trotzdem positiv. Er sagt, für ihn gibt es kein »traurig« oder »schlecht«, sondern nur »unterschiedlich gut oder cool« und er gönnt es zum Beispiel einer Ausbildungskollegin aus vollem Herzen, dass sie schon eine Wohnung gefunden hat. Er blickt weiterhin positiv in die Zukunft und sagt, wir schaffen das schon mit der Wohnung! Und das hat mich einfach gerührt, dass er sich so für andere freuen kann und das Ganze noch verhältnismäßig »fluffig« sieht.
Was steht in nächster Zukunft beim CLZT an und was wünscht ihr euch?
Es ist natürlich immer noch alles beeinflusst durch die Pandemie. Wir haben jetzt sehr viel für den Sommer geplant, haben mehrere Anfragen für Fachveranstaltungen, wo wir Input dazu geben sollen, was wir als Careleaver-Zentrum machen und zur Position von Careleavern insgesamt. Dann wollen wir dieses Jahr die Workshop-Reihe im Sommer statt im Herbst durchführen: wir haben im Juli, August und September jeweils ein Wochenende dafür eingeplant und hoffen, dass wir es auch durchführen können. Wir arbeiten jetzt mit den Kolleg*innen vom Übergangscoaching im Kyffhäuserkreis zusammen – ich plane mit Christin zusammen die Workshop-Reihe und ich finde es immer toll, mit verschiedenen Kolleg*innen zu tun zu haben.
Ich wünsche mir, dass wir mit mehr Personal in Thüringen arbeiten könnten, weil wir in anderen Projekten die Erfahrung gemacht haben, dass es schon sinnvoll ist, regionale Ansprechpartner*innen zu haben und wir haben nun mal 23 Landkreise – das ist eine Menge. Wir sind sehr regional festgelegt, da wir nicht in allen Landkreisen gleichzeitig tanzen können. Ich glaube deshalb, wir könnten mehr bewegen, wenn unser Team größer wäre.