Interview

»Beim Care Leaving in der Pflegekinderhilfe verändert sich nicht nur ein junger Mensch, sondern ein ganzes Familiensystem!«

Katrin Behrens ist Geschäftsführerin des Kompetenzzentrum Pflegekinder e.V. Gemeinsam mit ihren Kolleg:innen Paul Bränzel und Fiona Grasmann leitete sie zwei Jahre lang das Brückensteineprojekt »Careleaving in der Pflegehilfe« durch die Pilotphase, die 2021 endete. In diesem Interview erzählt sie von Erfahrungen aus ihrer Arbeit mit Pflegekindern und -eltern, persönlichen Highlights aus der Zeit im Brückensteineverbund – und sie verrät uns ein paar Details über ihr nächstes spannendes Projekt »Jugendhilfe nachgefragt!«

Liebe Katrin, die Pilotphase von 2019 bis 2021 des Projektes »Careleaving in der Pflegehilfe« eures Trägers Kompetenzzentrum Pflegekinder e.V. ist Ende letzten Jahres ausgelaufen. Erzähl uns doch mal, was war euer wichtigstes Learning aus dem Ansatz der Zusammenarbeit bei Brückensteine und eurer Zeit im Projektverbund?

Ein wichtiger Projektansatz für uns war das Bewusstsein darüber, dass es zu wenig Kenntnisse und Vorbereitungsschritte gibt, die auf das Care Leaving vorbereiten – und zwar sowohl bei Pflegekindern als auch bei Pflegefamilien, die ja mit betroffen sind. Und auch bei den Fachkräften – wobei das dort ja nun schon ein paar Jahre in Bewegung geraten ist, aber eben noch nicht mit dem spezifischen Fokus auf Pflegekinder. Und da wollten wir unserer Szene der Pflegekinderhilfe zugeschnittene Informationen liefern, damit sie sich künftig gewappneter dazu verhalten und Pflegefamilien besser begleiten können.

Welchen konkreten Mehrwert eines „Collective Impact“-Ansatzes, wie wir ihn im Brückensteineverbund verfolgen, siehst du dabei?

Ich würde sagen, dass wir durch den Brückensteineverbund das »Care Leaving-Phänomen« – ich will es jetzt nicht »Problem« nennen – aber die mitunter problematische Situation von Careleavern viel mehr in der Breite mitgekriegt haben und diese Kenntnisse immer auch als einen gewissen Druck in die Pflegekinderhilfe mit reinbringen konnten. Gleichzeitig haben wir natürlich durch das, was wir von den anderen Brückensteineprojekten erfahren haben, nochmal mehr gemerkt, was genau die Spezifika in unserem Feld sind – wir waren ja das einzige Projekt im Verbund, das sich speziell auf die Pflegekinder konzentriert hat. Insofern war das auf jeden Fall ein Mehrwert.

       

»Es müssen ganz dringend ein anderes System und Anknüpfungspunkte her, sodass klar wird: Eine gute Zeit in der Pflegefamilie ist wertvoll so wie sie ist.« 

Katrin Behrens

Careleaver-Seminar des Kompetenzzentrum Pflegekinder

© Kompetenzzentrum Pflegekinder, 2021

Der Begriff Careleaver schließt ja Pflegekinder mit ein. Weshalb ist es aus deiner Sicht wichtig, Pflegekinder als besondere Bedarfsgruppe im Themenfeld Leaving Care miteinzubeziehen und wo siehst du spezifische Merkmale und Herausforderungen?

Man muss sich mal die Anzahl von Pflegekindern klarmachen: In einer Statistik von 2019 heißt es, dass von 260.000 Jugendhilfeempfänger:innen in Fremdunterbringungen tatsächlich 90.000 in Pflegefamilien untergebracht waren. Das ist eine signifikante Zahl!

Die besondere Situation von Pflegekindern ist auf mehreren Ebenen immer wieder ins Auge gestochen. Durch die familiäre Anbindung haben sie einerseits ein paar Startvorteile: Sie leben vielfach in einem geschützteren Raum als Kinder oder Jugendliche in Heimen, Einrichtungen oder in Gruppen – viele Pflegefamilien bieten ein sehr, sehr positives Lebensumfeld! Gleichzeitig bringt das andere Herausforderungen mit sich: Oft sind sie allein in diesem privaten Setting bei einer Familie, die unter Umständen auch nicht viele Kenntnisse hat – das sind ja ehrenamtliche Unterstützer:innen der Erziehungshilfe. Es ist oft weniger professionelles Personal in der Umgebung der Kinder, das sich um sie kümmern und sagen kann: »Schau mal, hier gibt es Sachen, die du wissen und auf die du vorbereitet werden musst.«

Dadurch sind sie, wenn man es mal grob altersgemäß vergleicht, etwas unreifer und unsicherer als junge Menschen, die in Einrichtungen leben. Ich würde sagen, dass letztere schon ein Stückchen näher an der »Welt da draußen« sind. Es gibt außerdem für Pflegekinder ganz wenige Gruppenangebote oder -events, wo sie Peers kennenlernen können. So haben sie weniger Möglichkeiten, sich durch Mund-zu-Mund-Propaganda darüber auszutauschen: »Wie ist es bei dir, wie ist es bei mir, gibt’s da irgendwelche Tipps?« 

Und welche besonderen Herausforderungen siehst du bei den Pflegeeltern?

Auch Pflegeeltern geraten in einen emotional herausfordernden Prozess und müssen sich gewisse Fragen stellen: Was ist, wenn das Pflegekind nicht mehr da ist? Sind wir dann Eltern im »empty nest« oder haben wir vor, wieder jemanden aufzunehmen? Wie wird das von der 18-jährigen Person aufgenommen, die sich vielleicht doch aus dem Nest gekickt fühlt?
Und was interessant ist: Es gibt durchaus Pflegefamilien, die sagen, dass sie den »Job« übernehmen, bis das Pflegekind 18 oder 21 Jahre alt wird, aber nicht ihr ganzes Leben dafür anbieten, sondern zum Beispiel ihre Rente genießen wollen. Das ist auch legitim – niemand ist verpflichtet, das bis zum Lebensende als emotionale Bindung und Aufgabe zu sehen.

Für ein Kind ist es wiederum ganz schön schwierig, das aufzunehmen und zu verstehen. So etwas muss gut vermittelt werden. Da müssen natürlich ganz dringend ein anderes System und Anknüpfungspunkte her, die klar machen: Eine gute Zeit in der Pflegefamilie ist wertvoll so wie sie ist, aber leider wirst du nicht ein Leben lang diesen familiären Kontext haben können, sondern du musst weiterschauen und im Idealfall bleiben dir die Personen als Gegenüber weiterhin verbunden.

Der letzte Punkt, den ich superwichtig finde: Beim Care Leaving in der Pflegekinderhilfe verändert sich etwas für ein ganzes Familiensystem! Es ist nicht wie in einer Einrichtung, wo sich nur ein junger Mensch verändert, wobei ihn die Einrichtungen begleitet und verabschiedet, sondern für Pflegeeltern ist es vielmals ein total schwerer Schritt, die Verselbstständigung des Kindes zuzulassen. Ähnlich wie in allen Familien – ein Kind ziehen zu lassen und entsprechend zu fördern ist ja nicht ganz einfach. Es ist total wichtig, diese Veränderung, die auch auf die Pflegeeltern zukommt, mit im Blick zu haben und das ganze System ein Stück weit zu begleiten, damit es ein gutes Bewusstsein für die Herausforderungen und Lösungsmöglichkeiten gibt.

Careleaver-Seminar des Kompetenzzentrum Pflegekinder

© Kompetenzzentrum Pflegekinder, 2021

   

»Es gibt diese Unsicherheit in einer Welt, wo alle Parameter sich ändern: Wie geht es mit meinen Pflegeeltern weiter? Bin ich jetzt total auf mich gestellt oder habe ich eine Familie? Das sind schwer verunsichernde Fragen.«

Katrin Behrens

Was war innerhalb eurer Projektlaufzeit das größte Highlight für dich und auf welche Meilensteine bist du im Rückblick besonders stolz?

Für uns sind die Seminare, die wir ­(wie viele andere Brückensteineprojekte) angeboten haben, total aufgegangen: Insbesondere das Angebot für Pflegekinder – die keine Kinder mehr waren, sondern Jugendliche ab 16 Jahren – gemeinsam mit ihren Pflegeeltern war in jeder Durchführung ganz großartig! Da haben sich alle Beteiligten bedankt und gesagt, dass es so toll ist, zu so einer Infoveranstaltung auf Augenhöhe eingeladen zu werden. Das hat quasi schon etwas zurecht gerüttelt, was sie vorher nicht hatten: Oft war es so, dass die Jugendhilfe mit den Pflegeeltern spricht und dann alle irgendetwas beschließen – und das Kind oder die jugendliche Person ist dabei schon wieder außen vor. Hier haben wir stattdessen alle zur selben Veranstaltung eingeladen. Sich im Wechsel mit den Peers und miteinander austauschen zu können, war sowohl für die Pflegekinder als auch für die Pflegeeltern untereinander ganz wichtig. Das war toll im Erleben und sehr wertvoll für alle Teilnehmenden.

Wo siehst du nach wie vor die größten gesellschaftlichen und politischen Schmerzpunkte, denen zukünftig weiterhin begegnet werden muss?

Ein Schlüssel-Schmerzpunkt ist, glaube ich, weiterhin: Wo und durch wen findet eine Begleitung statt? Wer bietet sich weiter als Ansprechpartner an? Die anderen dringenden Probleme sind wie bei anderen Careleavern die finanzielle oder Wohnungsnot – wenn nicht die Pflegefamilie ein Polster angeboten hat, das gibt’s natürlich auch.
Und es gibt diese Unsicherheit in einer Welt, wo alle Parameter sich ändern: Wie geht es mit meinen Pflegeeltern weiter? Sind die eigentlich noch für mich zuständig? Was ist mit meinen leiblichen Eltern? Bin ich jetzt total auf mich gestellt oder habe ich eine Familie? Das sind ja schwer verunsichernde Fragen. Aber diese ganzen Nöte könnten gelöst werden, wenn klar ist, wo es einen Ansprechpartner gibt – und zwar einen persönlichen, nicht nur eine anonyme Nummer. Für die Pflegekinder, glauben wir, sollte das jemand aus dem bisherigen Setting sein, weil eine Vertrauensarbeit dann in das Erwachsenwerden hinein weiter angeboten werden kann. Wir halten zum Beispiel viel von Nachbetreuungsgutscheinen und davon, Angebote zu liefern, wo junge Erwachsene im alten Jugendhilfe-Setting weiterhin Ansprechpartner finden. Wohlwissend, dass das nicht alle Jugendlichen wollen und dass sie auch eine Ablehnungshaltung haben können oder sagen »Ich will jetzt aus der Jugendhilfe raus«, was man auch verstehen kann. Insofern werden auch jenseits der Jugendhilfe Ansprechpartner gebraucht – beides ist wichtig!

Wie geht es bei euch nun weiter und hast du ein paar abschließende Worte, die du unserer Leser:innenschaft mit auf den Weg geben möchtest?

Das Kompetenzzentrum Pflegekinder ist ja nicht nur in dem Care Leaving Projekt, sondern insgesamt intensiv mit Pflegekindern im Austausch, weil wir es letztlich als unsere Aufgabe sehen, die Beteiligung zu fördern und mit Pflegekindern gemeinsam die Fachkräfte mit den Fragen, mit den Nöten, mit den Problemen und Gedanken zu konfrontieren. Deshalb bringen wir jetzt ein neues Projekt an den Start: »Jugendhilfe nachgefragt!«

Wir wollen mit Pflegekindern und jungen erwachsenen Careleavern zwei Jahre lang den Fragen nachgehen, bei denen viele sagen »Das habe ich nie richtig verstanden!« Wenn zum Beispiel jemand sagt »Ich verstehe nicht, wie ein Familienrichter entscheidet«, dann sagen wir »Gut, dann gehen wir zu einem hin und reden mit ihm!« Wir wollen durch die Bundesrepublik ziehen und uns verschiedene Ansprechpartner vorknöpfen (lacht). Es sollen alternative Medienformen entstehen, zum Beispiel Filme oder auch Podcasts, sodass alle, die an den Themen Interesse haben, sich leicht ansprechen lassen und sehen: Was haben die Jugendliche für Fragen? Was gab es für Antworten und wie weit kommt man, wenn man so einen direkten Dialog forciert? Wo sind vielleicht weiterhin Grenzen? Ein bisschen wie bei der Sendung mit der Maus: Wie funktioniert eigentlich ein Jugendamt? Schauen wir doch mal hinein!

Von solchen Fragen gibt’s viele, wie wir wissen! Fiona Grasmann und ich wollen in dem Projekt junge Menschen ermächtigen, sie zu formulieren, ihre Rechte zu kennen und zu wissen, dass sie das alles fragen dürfen – sie ermutigen, dies auch einzufordern, denn demokratische Teilhabe ist ein doppelseitiger Prozess: Es muss sowohl eingeräumt als auch ausgeübt werden. Das müssen manche erst lernen.
Ansonsten hat das Kompetenzzentrum Pflegekinder noch ganz viele andere Aufgaben, zum Beispiel die Beratung von Pflegekinderhilfe-Fachkräften und jede Menge Publikationen. So sind wir gut gelaunt und freuen uns, als Verbund- und Netzwerkpartner mit neuem Format anzutreten und weiterhin mit den Brückensteinen im Austausch zu bleiben.