Interview

»Ein Weg von vielen, vielen sauren Äpfeln, in die ich beißen musste«

Janik, 22, ist Careleaver* und in einer Pflegefamilie aufgewachsen. Er hat gerade sein Studium beendet und wohnt mit seiner besten Freundin in einer WG in Magdeburg. In unserem Interview erzählt er, wie er den steinigen Weg in die Eigenständigkeit gemeistert hat, von seinen Ideen für bessere Übergangs- und Studienbedingungen für Careleaver und wie er darauf kam, sich für ein Stipendium zu bewerben.

Wie gut hast du dich auf deinen Auszug bei deiner Pflegefamilie vorbereitet gefühlt?

Allgemein bin ich mit sehr gemischten Gefühlen aus der Jugendhilfe ausgezogen. Ich hatte emotional eine sehr, sehr schöne und gute Begleitung durch meine Pflegemutter und da bin ich mir auch bis heute sehr dankbar für. Rechtlich und finanziell, war es aber sehr holprig. Ein Weg von vielen, vielen sauren Äpfeln, in die ich beißen musste. Ich war das erste Pflegekind meiner Pflegemutter. Dementsprechend war sie zwar grob über die Rahmung informiert, aber eher über das, was ihre Position anbelangte.

Wie hast du dich selbst auf den Auszug vorbereitet?

Ich habe vor allem gearbeitet: in einer Tanzschule, in einem Eiscafé und als Service-Kraft in einem Fast-Food Laden. Mein Plan war damals, mit dem Geld, was ich mir selbst verdient habe meinen Umzug zu organisieren und für 4 Wochen nach §41 weiterführende Hilfe für junge Volljährige zu beantragen.

Ich bekam dann mit 18 Jahren aber erstmal den Bescheid zur Kostenheranziehung. Der Plan, meinen Umzug mit meinem eigenen Geld zu finanzieren, wurde dadurch schon mal zu Nichte gemacht. Dann hat sich das Jugendamt bei meinem Antrag auf weitere Unterstützung quergestellt - und dann kam noch hinzu, dass zu meinem 18. Geburtstag auch das Jobcenter auf mich aufmerksam geworden ist. Meine Eltern hatten für mich Sozialleistungen empfangen, die sie gar nicht hätten empfangen dürfen. Und das sollte ich, weil ich dann rechtsfähig war, auch noch abzahlen.

Von 25 Cent pro 1 Euro, den ich selbst verdient hatte, konnte ich nicht zu dem geplanten Termin umziehen. Also bin erstmal noch länger bei meiner Pflegemutter geblieben. Wir haben uns geeinigt, dass ich bestimmte Kosten selbst übernehme, was auch völlig okay war, aber insgesamt hätte ich mir da mehr vom Jugendamt erhofft.

»Am meisten hat mir Beistand gefehlt. (...) Die echte Selbstständigkeit ist eben doch etwas ganz anderes als innerhalb der Jugendhilfe selbstständig zu sein.«

Wie hast du es nach dem Rückschlag geschafft, den Umzug trotzdem zu meistern?

Ich habe mit dem Jugendamt das Agreement treffen können, dass ich das in Raten abzahle. Somit konnte ich erstmal meine Miet-Kaution übernehmen, und den ersten Monat Miete bezahlen. Bei den Raten für das Jobcenter hatte ich das Glück, dass sie das Geld erst ein Jahr später wollten. Das wäre auch nicht anders gegangen. Durch die Kostenheranziehung hatte ich nur noch 75 Euro zum Leben und für Essen im Monat, also ohne Miete und die ganzen Fixkosten. Von 75 Euro dann nochmal 50 Euro Stundung an das Jobcenter abzubezahlen, wäre wirklich nicht möglich gewesen. Das ist kein Leben, das ich hätte führen können. Auf keinen Fall.

Was sollte sich deiner Erfahrung nach für Careleaver beim Übergang in die Eigenständigkeit noch verbessern?

Also Numero eins ist, dass die 18-Jahre-Grenze aus dem SGB VIII komplett raus muss.  Junge Menschen, die nicht in der stationären Kinder- und Jugendhilfe aufwachsen, ziehen statistisch gesehen meistens mit Mitte 20 erst aus und von uns Careleavern wird verlangt, dass wir mit 18 Jahren schon bereit dafür sind. Wie kann das sein?

Und wenn es schon so ist, braucht es wenigstens Übergangsprogramme, die nicht nur bei Behördengängen unterstützen, sondern auch psychosozial. Am meisten hat mir Beistand gefehlt, jemand, der sich wirklich regelmäßig mal mit mir ausgetauscht hätte und mich in meinen Problemlagen auch praktisch beraten hätte. Man hat ja auch mit Beziehungsabbrüchen zu kämpfen. Und die echte Selbstständigkeit ist eben doch etwas ganz anderes als innerhalb der Jugendhilfe selbstständig zu sein. Ohne die Menschen, die noch mit einem halben Auge auf das eigene Tun draufschielen, ist es ein ganz anderes Setting und dementsprechend kommt es leicht zu Überforderungen, gerade wenn das Geld so knapp ist.

Wie ging es dann weiter auf deinem Weg in Richtung Studium?

Bei dem Studiengang wurde ich sofort angenommen. (strahlt)

Mit dem Studium kam aber auch die nächste Baustelle: das BAföG-Amt. Ich hatte bereits 4 Jahre keinen guten Kontakt zu meinem Vater und wollte das auch nicht unbedingt. Das BAföG-Amt hat aber meine Begründung, dass ich Careleaver* bin, nicht akzeptiert und darauf bestanden, dass ich Kontakt mit ihm aufnehme und quasi das Gespräch anfange, mit: „Hallo lieber Erzeuger, ich bräuchte mal deine Finanzunterlagen.“

Es war nicht so, dass mir entweder das Jugendamt oder das BAföG-Amt geholfen hat, die Finanzen mit meinem Vater zu klären. Im Gegenteil - mir wurde die Pistole auf die Brust gesetzt. Ich muss ihn jetzt kontaktieren, sonst hat es die Konsequenz, dass ich absolut kein Geld habe und nicht studieren kann. Am Ende war es meine Pflegemutter, die mich fast ombudschaftlich beraten und unterstützt hat und ich konnte mit meinem Vater eine Einigung finden. Stressig war es für mich trotzdem sehr.

»Wir müssen von dem System ablassen, dass eine Förderung für einen bestimmten Zweck, zum Beispiel die Ausbildung, mit Grundleistungen abgegolten ist. Mit so wenig Geld ist es nahezu unmöglich dazuzugehören

Wie hast du dann dein Einstieg ins Studienleben erlebt?

Die ersten anderthalb Jahre meines Studiums waren richtig blöd. Vor allem, weil ich summa summarum nur 75 Euro pro Monat hatte. Ich habe mich von Spaghetti, entweder mit Sojasoße oder mit Ketchup, ernährt. Das war einfach das günstigste. Auch wenn es klischeehaft klingt. Und auf der emotionalen Basis war ätzend, dass ich am Anfang nie so richtig das Gefühl hatte, ich bin in dem Studium angekommen. Zu den Kommiliton:innen musste ich ständig sagen: »Ich kann nicht. Ich habe kein Geld, um mit euch in eine Bar oder ins Kino zu gehen.« Es gab auch keine anderen Careleaver in meinem Studiengang, sodass niemand mein Schicksal geteilt hat. Somit hat da auch das Verständnis oft gefehlt. 

Welche Möglichkeiten siehst du, um die Studienfinanzierung für Careleaver leichter zu machen?

Es muss auf jeden Fall eine Regelung her, dass Careleaver BAföG elternunabhängig beantragen können. Das gibt es ja schon, aber eben nicht für die Zielgruppe. Und ich finde, wir müssen von dem System ablassen, dass eine Förderung für einen bestimmten Zweck, zum Beispiel die Ausbildung, mit Grundleistungen abgegolten ist. Mit so wenig Geld ist es nahezu unmöglich dazuzugehören.

»Es gehört für mich zu einer menschlichen Verpflichtung, seine Freizeit nicht nur in Konsummüll zu stecken. (...) Ich habe bestimmte Kapazitäten, die ich in die Gesellschaft einbringen könnte, dann mache ich das auch!«

Seit deinem Studium engagierst du dich gesellschaftlich. Warum ist es dir wichtig, dich zu engagieren?

Es gehört für mich zu einer menschlichen Verpflichtung, seine Freizeit nicht nur in Konsummüll zu stecken und jede freie Minute mit Netflix zu verbringen, sondern festzustellen: »Ich habe bestimmte Kapazitäten, die ich in die Gesellschaft einbringen könnte, dann mache ich das auch!« Ich war zum Beispiel lange Mentor für ein Sandwich-Kind aus einer Familie mit drei Kindern. Dann habe ich mich im queeren Bereich engagiert, dann die Leitung eines Hochschulreferats übernommen, war im Fachschaftsrat und im Studierendenrat. Inzwischen bin ich Vorsitzender* eines Kreisjugendverbandes und Mitglied der »Landesarbeitsgemeinschaften zur Qualitätsentwicklung in den Hilfen zur Erziehung«. Was für ein langer Name!

Viele Stipendien fördern Studierende, die sich gesellschaftlich engagieren. Hast du dich für ein Stipendium beworben?

Ja, das habe ich. Aber auf die Idee mit dem Stipendium bin ich erst spät gekommen. Weil auch da die Perspektive bei mir da war: »Ich bin Careleaver* und habe keine Chance auf ein Stipendium.« Ich dachte das ist etwas, was mit Begabtenförderung in Verbindung gebracht wurde. Eine Kommilitonin aus dem Fachschaftsrat hat den Anstoß gebracht und gesagt, ich soll es versuchen. Und es hat dann tatsächlich bei der Friedrich-Ebert-Stiftung geklappt. Mir hatte das vorher einfach niemand erzählt.

Zum Abschluss eine Frage ans Herz. Was ist dein Herzenswunsch für dich und für eine bessere Welt?

Für mich habe ich aktuell keine Herzenswünsche, weil ich über mein Studium sehr viel gearbeitet habe, um mir meine Herzenswünsche selbst zu erfüllen.

Für eine bessere Welt habe ich sehr viele Wünsche. Als Anfang würde mir ein Werte-Wechsel reichen, hin zu einem System, das unterstützt, weil Unterstützung notwendig ist und nicht, weil ein Mensch dann wieder für den Arbeitsmarkt zur Verfügung steht.