#CareAboutCareleaver

Careleaver-Forderungen an Politik und Gesellschaft

Das Careleaver Sommerfestival 2021 mit knapp 40 teilnehmenden Careleavern aus ganz Deutschland war eine Möglichkeit, sich zu vernetzen und Erfahrungen auszutauschen. In intensiven Workshops hatten Careleaver die Möglichkeit, sich auch über gesellschaftspolitische Strukturen und Hürden auszutauschen, die sie noch immer häufig ohne ausreichend Unterstützung überwinden müssen. Hieraus ist ein gemeinsames Forderungspapier entstanden, in dem Schmerzpunkte, Forderungen an Politik und Gesellschaft und Lösungswünsche zusammengetragen wurden.

Das Papier wurde von teilnehmenden Careleavern verfasst und ist hier im Original nachzulesen.

#CareleaverSommerfestival #CareAboutCareleaver

Careleaver:innen sind (junge) Menschen, die einen Teil ihres Lebens in der stationären Jugendhilfe verbracht haben – oder auch junge Menschen am Übergang aus der Jugendhilfe. Careleaver:innen werden in unterschiedlichen Bereichen strukturell benachteiligt. Diese Benachteiligung wurde in einer internationalen Erklärung anhand von Lücken verdeutlicht und auf dem Careleaver Sommerfestival auf drei Bereiche zusammengefasst. In Workshops wurde diskutiert, wie Benachteiligung sich in diesen drei Bereichen für uns konkret zeigt. Stark zusammengefasst wurden wir als Careleaver:innen in folgenden Bereichen vor besondere Herausforderungen gestellt:

  • Ausbildung und Beruf
  • Unterstützungsstrukturen
  • Grundbedürfnisse

Ausbildung und Beruf

Circa die Hälfte der Careleaver:innen erreicht einen qualifizierten Hauptschulabschluss. Nur weniger als 10 % von Careleaver:innen erlangt eine (Fach-)Hochschulreife. Nur 70 % erlangen einen Schulabschluss am Ende ihrer Jugendhilfe.

Unsere Erfahrung ist, dass es den Jugendämtern und Jugendwohngruppen wichtiger ist, Geld zu sparen anstatt uns in dem Bildungsabschluss, den wir erreichen können und wollen, zu unterstützen. Jugendämter und Einrichtungen drängen uns dazu niedrigere Bildungsabschlüsse anzustreben, damit wir Einkommen haben, was sie einziehen und als Begründung dafür verwenden können, uns zeitiger aus der Jugendhilfe rauszuwerfen.

Bildungsförderung: In Wohngruppen gibt es keine individuelle Förderung von Bildung. Nachhilfe wird nur bewilligt, wenn man bereits versetzungsgefährdet ist, was viel zu spät ist. Außerdem wird nur das billigste Angebot genommen, welches den hohen Nachhilfebedarf bei Versetzungsgefährdung, insbesondere bei einem höheren Bildungsabschluss, nicht ansatzweise decken kann. Unsere Betreuer:innen sind auch häufig nicht in der Lage, uns in schulischen Belangen zu unterstützen.

Ausstattung: Wohngruppen sind technisch miserabel ausgestattet. In der Regel gibt es einen sehr veralteten PC, den sich alle Bewohner:innen teilen müssen. Frei zugängliches WLAN gibt es nur in den seltensten Fällen. In den letzten Jahren, sowie insbesondere seit Beginn der Corona Pandemie, hat sich gezeigt, wie wichtig ein Zugang zu Technik und Internet für Schüler:innen sind. Für bereits bildungsbenachteiligte Careleaver:innen ist die Pandemie damit ein besonders harter Schlag. Wohngruppen müssen endlich dem Jahrhundert entsprechend ausgestattet sein!

Existenzsicherung: Viele Careleaver:innen müssen neben Schule/Ausbildung/Studium arbeiten, um ihre Existenz zu sichern. Dies erzeugt eine Menge Druck und Angst und verhindert die volle Konzentration auf die eigene Bildung. Durch die Kostenheranziehung werden Careleaver:innen auch oft in die Schwarzarbeit gedrängt, um ihr Geld vor dem Jugendamt zu schützen. „Ich habe einen 16 Stunden Tag: Schule und zwei Jobs“ sagt eine 18-jährige Careleaverin, die vor ihrem Abitur steht.


Unsere Bildung ist wichtiger als die Finanzen der Jugendämter!

Wir fordern, dass wir in dem Bildungsabschluss, den wir erreichen können und in dem wir uns verwirklichen wollen, vollumfänglich, individuell und vor allem auch finanziell unterstützt werden, selbst wenn es bedeutet, dass die Jugendhilfe oder bzw. der Verbleib in der Einrichtung dadurch länger ist!

Wir wollen, dass unsere Betreuer:innen und Pflegeeltern in der Lage sind, uns bei dem Erledigen von Schulaufgaben und dem Vorbereiten auf Tests, Klassenarbeiten und Klausuren zu unterstützen! Qualitativ hochwertige Nachhilfe sollte bewilligt werden, wenn wir es für nötig halten und nicht wenn es bereits zu spät ist!

Wohngruppen müssen endlich dem Jahrhundert entsprechend ausgestattet sein! Careleaver:innen und Carereceiver:innen brauchen einen Computer, den sie für sich nutzen können, sowie einen freien Zugang zu Internet!

Dies alles ist essenziell, damit Careleaver:innen der Bildung und Ausbildung nachgehen können, die zu ihrer idealen Entfaltung der Persönlichkeit notwendig ist.

 

»Ich habe einen 16 Stunden Tag:
Schule und 2 Jobs«

sagt eine 18-jährige Careleaverin, die vor ihrem Abitur steht

Unterstützungsstrukturen

Orientierung: Careleaver:innen sind vor die verschiedensten Herausforderungen gestellt. Sie kommen, wenn sie aus der Jugendhilfe ausziehen aus einem Mikrokosmos, der sich sehr von der Lebenswelt von jungen Menschen unterscheidet, welche in der Herkunftsfamilie aufgewachsen sind. Sie müssen sich weitestgehend selbst Strukturen und Netzwerke aufbauen. Ob es da um das finden einer hausärztlichen Versorgung geht oder der Beginn einer psychotherapeutischen Behandlung. Auch müssen sie sich soziale Netzwerke außerhalb des Jugendhilfe Kontextes selbst erschließen.

Wissen: Es zeigt sich dort deutlich, dass der Bereich Leaving Care noch viel Forschungsbedarf aufweist. Selbst bei öffentlichen Fachstellen besteht noch reichlich Nachholbedarf über den Status Leaving Care. Dieser Status, als auch der dahinter stehende Prozess muss in der Gesellschaft verbreitet, etabliert und vor allem akzeptiert werden!

Careleaver:innen sind Expert:innen der eigenen Lebenswelt. Fragt uns! Hört uns zu! Wir wollen partizipieren und dafür sind wir auf eure Unterstützung angewiesen. Schafft Strukturen für uns, in welchen wir uns selbst zusammen tun und organisieren können. Wir haben das Recht dazu (Paragraph 4a SGB VIII). Wir brauchen jedoch eure Hilfe, um unsere Rechte zu verstehen und durchsetzen zu können.

Klärt uns auf! Wir brauchen unabhängige, niedrigschwellige und vertrauliche Beratung! Wir wünschen uns Menschen an unserer Seite, welche uns im ganzen Prozess des Leaving Care begleiten. Eine:n Expert:in, die uns durch diesen komplexen Prozess begleitet wie ein:e Lots:in.

Wir wollen nicht, dass wir nur Unterstützung bekommen, wenn wir große Probleme haben, sondern wir fordern präventive Hilfe! All diese Informationen und Rechte sollten so aufbereitet sein, dass wir sie verstehen und nutzen können. Wir sind digitale Profis, zieht nach!

 

Grundbedürfnisse

Wohnen: Wohnen ist ein Grundrecht! Um Careleaver:innen den Übergang in ein selbstbestimmtes Leben zu gewährleisten, ist Begleitung von der Wohnungssuche, Wohnungsbesichtigung, die Bereitstellung einer Kaution/Bürgschaft bis zur Unterzeichnung eines Mietvertrages und der Ausstattung der ersten eigenen Wohnung notwendig. Hilfreich dafür wären: Checklisten und ausführlichere Informationen, gemeinsam erarbeitete Finanzpläne und die langfristige Erarbeitung von von Alltagsstrukturen (z.B. Putzen, Wäschewaschen, Wocheneinkauf, Ablage machen…). Da diese Strukturen bisher nicht für alle Careleaver:innen gegeben sind, leben Careleaver:innen auf der Strasse. Deshalb müssen Notschlafstellen in ausreichendem Maße finanziert werden.

Finanzielle Sicherheit: Aufgrund der Kostenheranziehung können Careleaver:innen nicht in ausreichendem Umfang sparen. Die Finanzierung von medizinischen Hilfsmitteln, z.B. Brille, Zahnspange, Spirale, Medikamenten und Hygieneartikeln darf kein bürokratisches Hindernis sein. Die Beantragung von finanziellen Mitteln für Erstausstattung muss individuell vorbereitet und langfristig begleitet werden.

Körperliche Gesundheit: Careleaver:innen müssen körperliche Bedürfnisse wahrnehmen, ernstnehmen und stillen können. Viele Themen, die mit Gesundheit in Zusammenhang stehen, werden in der stationären Jugendhilfe tabuisiert. Dies betrifft Fragen der Sexualität, Consent und Schutz vor Gewalt. Aber auch gesunde Ernährung, gemeinschaftliche aktive Freizeitgestaltung, den Umgang mit Substanzenkonsum („Safer Use“) und mit digitalen Medien gehören zum gesunden Erwachsenwerden.